Angesichts der seit Ende Mai durchgeführten bundesweiten polizeilichen Razzien gegen Mitglieder der klimapolitischen Gruppe „Letzte Generation“ (LG), der darauffolgenden Öffentlichmachung einer staatlichen Überwachung des Pressetelefons der Gruppe und dem Versuch, Mitglieder der LG, die sich an Straßenblockaden beteiligt hatten, in gerichtlichen „Schnellverfahren“ zu verurteilen, muss mit Nachdruck herausgestellt werden, dass die massiven staatlichen Repressionen gegen die LG unverhältnismässig sind und solidarisch abgewendet werden müssen.
Für eine gesellschaftskritische, sozialwissenschaftliche Perspektive stellt der Klimawandel und die daraus resultierende globale Klimakrise einen zentralen Referenzpunkt der eigenen wissenschaftlichen Arbeit dar. Umwelt-, klima- und sozialwissenschaftlich ist unbestreitbar, dass wir uns in einer globalen Entwicklungsdynamik befinden, die menschliche Lebensgrundlagen nachhaltig zerstört. Hiervon zeugen die Klimaerwärmung, die Zunahme von Starkwetterphänomen, das Artensterben, die Abschmelzung der Pole, Dürren, Ernährungskrisen und eine seit Jahren steigende Zahl von Menschen, die auf Grund klimatischer Veränderungen flüchten müssen.
Entsprechend muss die in öffentlichen Debatten immer wieder geäußerte Einschätzung, bei den Aktivistinnen der „Letzten Generation“ handele es sich um „gestörte Klimakleber*innen“ aufs Schärfste zurückgewiesen werden. In den kritischen, sozialwissenschaftlichen Diskursräumen, die sich mit dem Klimawandel beschäftigen, wird nicht mehr ernsthaft diskutiert, ob ein menschheitsbedrohender Klimawandel stattfindet, sondern nur noch, ob und unter welchen Entwicklungsbedingungen dieser bei entsprechenden Gegenmaßnahmen irreversibel ist oder nicht. Diesbezüglich politische Furcht oder Sorge zu entwickeln ist eine angemessene menschliche Reaktion.
Nicht angemessen ist jedoch die politische Entscheidung von Staatsanwaltschaften, Polizeibehörden und konservativen Politiker*innen der Inneren Sicherheit in Deutschland, die politischen Aktionen der „Letzten Generation“ als Tätigkeit einer „kriminellen Vereinigung“ zu werten. Es war und ist immer sichtbar, dass es bei den Aktionen der „Letzten Generation“ darum geht, das alltägliche, in der jetzigen Form hochgradig klimafeindliche, gesellschaftliche Leben in Deutschland zu unterbrechen, um diskursive, politische Freiräume zu öffnen und andere Möglichkeiten und Modelle sozial-ökologischen Handelns zu entwickeln und in der Praxis zu etablieren.
Dieses klimapolitische Ansinnen, auch gegen den im Grundgesetz und einer Reihe internationaler klimapolitischer Abkommen (Pariser Klimaschutzabkommen, Artikel 20a Grundgesetz, Bundes-Klimaschutzgesetz) verankerten politischen Auftrag zum Klimaschutz, zu kriminalisieren, mag in ein konservatives Weltbild passen, das bis zur lebensbedrohenden Selbst- und Fremdgefährdung an „alten Gewohnheiten“ festhalten und deren negative Folgen „totschweigen“ möchte. Es entspricht aber in keiner Weise den wissenschaftlich gesicherten, politischen Aufgabenstellungen, die aus den desaströsen Folgen des gegenwärtigen Klimawandels erwachsen.
Ganz im Gegenteil: mit den gewaltsamen Hausdurchsuchungen, den Angriffen auf Social Media Kanäle und Kommunikationsinfrastruktur sowie der Beschlagnahmung der finanziellen Mittel der LG werden nun auch noch jene sprichwörtlich „in Haft genommen“, die in kritischer Absicht auf die destruktiven Aspekte des Klimawandels hinweisen und diese aufhalten wollen. Aus einer grundrechtlichen Perspektive muss diesbezüglich betont werden, dass die staatlichen Repressionen gegen die LG – ebenso wie vergleichbare staatliche Repressionen gegen klimapolitische Akteure in Staaten wie Frankreich, in denen klimapolitische Gruppen wie “Le Soulèvement de la Terre” massiv drangsaliert und verboten wurden – für die unmittelbar Betroffenen massive anti-demokratische Grundrechtseinschränkungen darstellen.
Klimapolitisch ändern solche „repressiven Schauläufe“ konservativer Politik jedoch kaum etwas an der globalen Gesamtsituation. Denn die politische Aufgabe einer global-solidarischen, sozial-ökologischen Transformation der dominanten, imperialen Lebensweise des globalen Nordens stellt sich weiterhin mit aller politischen Dringlichkeit. Selbiges gilt für den Umstand, dass sich der destruktive Klimawandel unter den Bedingungen einer weiterhin existierenden, ressourcenintensiven und profitorienierten, globalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, die staatlich-autoritär nach Innen und Außen abgesichert wird, menschheitsbedrohend weiterentwickeln wird.
Dass dieses von mündigen Menschen in einer Demokratie kritisch wahrgenommen und problematisiert wird, ist eine politische Selbstverständlichkeit, die wertschätzend gewürdigt muss und nicht kriminalisiert werden darf. Entsprechend müssen die §129 StGB Verfahren gegen die Mitglieder der „Letzten Generation“** sofort eingestellt und darüber hinaus die staatlichen “Ausspäh- und Kriminalisierungsparagraphen” §129, §129a und §129b StGB ersatzlos abgeschafft werden, um den Raum für eine breite gesellschaftspolitische Debatte über global-solidarische Umgangsweisen mit der Klimakrise jenseits plumper konservativer Kriminalisierungsversuche zu öffnen.
Lars Bretthauer, Berlin
*Ich danke jenen Mitgliedern des offenen Verteilers der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung, die den ersten Entwurf dieser Stellungnahme begleitend kommentiert haben, für ihre hilfreichen Anregungen.
** Neue Entwicklungen rund um die LG können auf deren twitter-Profil nachvollzogen werden [–> LINK]