Dieser kurze Text ist eine Reaktion auf die aktuelle Krise der undogmatischen Linken in Deutschland. Diese Krise identifiziere ich entlang von zwei Faktoren: erstens den sich wiederholenden Niederlagen in politischen Kämpfen gegenüber neoliberalen, neokonservativen oder rechtsradikalen Projekten, Diskursen und Praxen. Diese Niederlagen ereignen sich durchgängig auf Feldern und in Bezug auf soziale Verhältnisse, die von unterschiedlichen Strömungen der undogmatischen Linken als Kern ihrer politischen Aktivität und als zentral für eine positive oder negative Bewertung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse betrachtet werden. Hierzu zähle ich die Felder Umwelt, Geschlechterverhältnisse, Anti-Kapitalismus, Sozialpolitik, Friedenspolitik und Anti-Militarismus, Migration sowie Anti-Autoritarismus, Überwachung und Repression.
Zweitens sind seit längerem sinkende Umfragewerten für die Linkspartei zu beobachten, die vor wenigen Wochen – nach der Abspaltung der BSW – bundesweit unter die 3%-Marke gefallen ist, und somit jetzt in bundesweiten Wahlumfragen den „Sonstigen Parteien“ zugeschlagen wird. Diese Entwicklung ist insofern bitter, als der einzige parlamentarische Akteur, der breit für linke zivilgesellschaftliche Akteure mit ihren Forderungen realistisch und parteiweit für eine Repräsentation bis ggf. Durchsetzung ihrer Interessen ansprechbar ist, bei der Bundestagswahl 2025 aus dem Parlament zu verschwinden droht.
Selbstreflexion von linkem Habitus, Inhalten und sprachlichen Formulierungen
Um es kurz zu machen: die Krise der undogmatischen Linken wird sich meines Erachtens nicht durch eine „Bewegung nach vorne“ lösen lassen, sondern nur durch massive interne Selbstreflexionsprozesse in Bezug auf Habitus, Inhalte und sprachliche Formulierungen. Oder anders ausgedrückt: die undogmatische Linke muss sich selbst verändern, um in der gegenwärtigen Situation mehr Gehör zu finden und ihr bisher nicht zugewandte Leute für die eigene Perspektive und daraus resultierende Forderungen zu gewinnen.
Eine solche Veränderung kann nicht am Reißbrett geplant und „umgesetzt“ werden, sondern nur in Dialogen mit der Restbevölkerung. Diese ermöglichen, die eigene soziale Positionierung in Bezug auf Habitus, Inhalte und sprachliche Formulierungen in actu zu reflektieren, und mit der Positionierung anderer Leute abzugleichen.
In diesen dialogischen Prozessen muss klar sein, dass undogmatische Linke weder „Heilsbringer*innen“, „helfende Sozialpädagog*innen“, „kluge Köpfe“ oder „Parteikader“ sind, die in Dialog treten wollen. Sondern politisch engagierte Menschen, die versuchen, ihre eigene Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen politischen Situation mit einer allgemeingesellschaftlichen Veränderung jener Verhältnisse zu verbinden, und darüber reden oder sich mitteilen wollen.
Widerstände und Erfahrungen gegen undogmatisch linke systemtransformatorische Theorie und Politik
Ich schreibe nun seit mehreren Jahren ein Blog und einen Messenger-Verteiler zum Thema „Systemtransformation“ und weiß um die Schwierigkeit, eine gute undogmatisch-linke Beschreibung und Kritik gegenwärtiger Verhältnisse mit einer utopischen Antizipation und Narration von emanzipatorischen Veränderungspotentialen zu schaffen. Ums klar zu sagen: es kostet viel Kraft und ist sehr anstrengend. Aber mensch ist nicht allein – es gibt so viele gute undogmatisch linke Vorarbeiten, in Praxis und Theorie, auf die es sich lohnt zurückzugreifen.
Ich denke, es muss allen, die sich auf diesen Weg machen, klar sein, dass sie gegen erhebliche Widerstände anarbeiten. Diese reichen von strukturkonservativen Haltungen auf individueller Ebene bis politischen Unglücks- und Drohszenarien im öffentlichen Raum, von expliziter Lobbyarbeit und Gewaltandrohungen wirkmächtiger Verbande und Gruppen, die vom Status Quo profitieren, bis zu den negativ besetzten Restbeständen verlorener undogmatisch linker Kämpfe und daraus resultierender Ohnmacht und verlorener Hoffnung auf ein besseres Leben.
Zwei politische Entwicklungen der letzten 45 Jahre sind diesbezüglich zusätzlich hervorzuheben: erstens das Ende des Realsozialismus als öffentlich wahrgenommener, wirtschaftlicher Systemalternative. Der autoritäre, parteizentrierte und gewaltvolle Charakter vieler realsozialistischer Staaten war zwar bereits während seiner Existenz für viele undogmatische Linke hochgradig kritikwürdig und nicht unterstützenswert, es ist dennoch der Marker im öffentlichen Raum, der am häufigsten aufgerufen wird, wenn mensch sagt, dass er „links“ oder „antikapitalistisch“ sei oder „sich ein anderes System wünscht“. In diesem Kontext muss daher immer die Geschichte der undogmatischen Linken betont und wiederholt werden, die sich erst aus der Kritik am Stalinismus und dem autoritären Parteicharakter vieler realsozialistischer Staaten massenhaft entwickelte, und sich als Gegenreaktion primär dem Konzept der Basisdemokratie verschrieb.
Zweitens dürfen die Auswirkungen des Neoliberalismus in mehrfacher Hinsicht nicht unterschätzt werden. Zu aller erst natürlich diskursiv bzw. hegemoniepolitisch die dem Neoliberalismus immanente Perspektive, dass der Kapitalismus „Natur“ sei. Thatchers Statement „TINA – there is no alternative“ mag plakativ klingen, es ist der breiten Masse der Bevölkerung genau wie der Grossteil der politischen Intellektuellen aber mittlerweile normal geworden, und steht als Absage an alle emanzipatorischen Veränderungswünsche und praktischen Transformationsversuche emotional massiv im Raum. Zusätzlich ist es den Neoliberalen gelungen, den Freiheitsbegriff, der bis dahin ein emanzipatorischer Standard undogmatisch linker Politik war und es auch in Zukunft wieder sein sollte, individualistisch, kontextlos und wirtschaftlich verengt zu kapern. Sich von gesellschaftlichen bzw. fordistisch-beengten Verhältnissen „zu befreien“ wurde so für viele Subalterne zum Bild für den erzwungenen „freien Gang“ in die ökonomische Unsicherheit und verschärfte Ausbeutung.
Die daraus resultierende soziale Verwüstung der unteren Einkommensschichten ist meines Erachtens zudem bisher kaum aufgearbeitet. Nach der Zerstörung der ostdeutschen Wirtschaft und die Schaffung eines riesigen Niedriglohnsektors durch die Regierung Kohl hat insbesondere die Durchsetzung von Hartz-IV und neoliberaler Arbeitsmarktreformen durch Rot-Grün ab 2001 nicht nur die praktische sozial- und wirtschaftspolitische Verschiebung von SPD und Grünen ins konservative Lage bedeutet (aus dem sie sich bis heute nicht 1mm rausbewegt haben), sondern das massenhafte wirtschaftliche Scheitern von Existenzen und die perspektivlose Verarmung von Sozialleistungsbezieherinnen.
Gepaart mit dem „modernisierend-freiheitlichen“ Habitus der neoliberalen Szene, der „einfache, schlanke Reformen für Alle“ mit einer Vielzahl von „Synergieeffekten“ versprach, die jedoch nur in wirtschaftspolitischen Dysfunktionalitäten, gesellschaftlicher Unterversorgung und individualisierter Armut endeten, ist ein diskursives Amalgam entstanden, das „freiheitlich-emanzipatorische Angebote“ unter den historisch begründeten Verdacht des „Klassenverrats“ und verschärfter Klassen- oder Elitenherrschaft stellt. Wer heute von „Systemwechsel“ reden möchte, muss sich daher bewußt sein, wie dieser zuletzt neoliberal erreicht und durchgesetzt wurde, und welche sozialen Spuren dieser hinterlassen hat.
Dieses zu reflektieren, bedeutet jedoch nicht, das politische Ziel einer linken Systemtransformation aufzugeben, ganz im Gegenteil. Es geht eher darum, sich bewusst zu machen, wer mensch ist, was mensch verändern möchte und was diese Veränderungen für andere Menschen bedeuten. Und das alles in historischer Absicht, weil das eigene Handeln eine Vorgeschichte hat und irgendwann auch Geschichte sein wird.
Eine undogmatisch linke Narration einer Systemtransformation zu entwickeln, die dieses berücksichtigt, muss das Ziel haben, im Alltagsleben genau wie bei Wahlentscheidungen den konkreten Eindruck und das Gefühl zu erzeugen, dass trotz der vorfindlichen Situation ein anderes System grundsätzlich möglich, wünschenswert und lebbar ist.
Reflexion des innerlinken bildungsbürgerlichen Habitus
Diesbezüglich stellt der mehrheitlich bildungsbürgerliche Habitus innerhalb der undogmatisch linken Szene ein Riesen-Problem dar – verwendet er doch oft eine abstrakte Sprache, benutzt unreflektiert akademisierte Begrifflichkeit, die dann als Herrschaftsinstrumente wirken, und grenzt sich über akademisiertes Wissen von einem angenommenen, „ungebildet-emotionalem Habitus“ ab, den es „zu belehren“ gelte. Hinzu kommt eine habituell vorgelebte, naturalisierte „Professionalität“, die „Fehler“ und „fehlerhaftes Verhalten“ implizit stigmatisiert und von sich distanziert anstatt das eigene Gewordensein und eigene Lernprozesse transparent offen zu legen und für „Fehlerfreundlichkeit und -akzeptanz“ in den eigenen Kontexten zu werben.
Darüber hinaus wohnt dem bildungsbürgerlichen Habitus oft eine protestantische, bildungsorientierte Askese inne, die intellektuelle Arbeit verabsolutiert und entweder selbst von „Spass“ und „Freude“ tendenziell entfremdet ist oder sich gar bewusst davon im Sinne „höherer Ziele“ distanziert. Verbunden mit der in Folge des hohen kulturellen Kapitals durchschnittlich höheren Klassenposition ergibt sich insbesondere gegenüber subalternen Lebenslagen ein seltsam widersprüchliches Verhältnis.
Diese Dominanz des bildungsbürgerlichen Habitus in der undogmatisch-linken Szene hat zwei gravierende negative Folgen. Zum einen begründet dieser in politischen Dialogen ein neues Herrschaftsverhältnis, wird also selber zum hierarchischen Problem. Zum anderen verhindert dieser einen produktiven linken Dialog mit Leuten, die sich bisher nicht der undogmatischen Linken zugehörig fühlen, da er an sich nicht ausreichend vermitteln kann, warum eine linke Systemtransformation gedanklich sinnvoll und emotional anstrebbar sein könnte.
Meines Erachtens wird die undogmatische Linke in näherer Zukunft keine Terraingewinne erreichen, wenn sie sich damit nicht auseinandersetzt. Ziel muss es sein, eine politische Neugierde auf linke politische Veränderungen zu erzeugen, indem undogmatisch Linke überhaupt erstmal breiter sprachfähig und möglichst barrierefrei ansprechbar werden.
Zur Sprachfähigkeit gehört auch die Vermittlung konkreter Emanzipationspotenziale, also in einem ersten Schritt die Auseinandersetzung mit und das emotionale Verständnis für alltägliche soziale Verhältnisse in Deutschland, in einem zweiten Schritt und daran anschließend eine utopische Antizipation linker Systemtransformationspotenziale. So etwas ist leicht geschrieben – dahinter steckt jedoch feldorientiert-spezifische, emotionale und intellektuelle Arbeit.
Intersektionalität als politische Kernkategorie
Konkrete Herrschaftssituationen in systemtransformatorischer Absicht zu verstehen ist eine komplexe Tätigkeit, die sich meines Erachtens und für die nähere Zukunft am Begriff der Intersektionalität orientieren sollte. Ich übersetze den Begriff als „Überschneidung von unterschiedlichen Herrschaftsverhältnissen“. Ich denke, dass sowohl die sozialwissenschaftlichen Forschungen der letzten 50 Jahre als auch praktische linke Bündnisarbeit gezeigt haben, wie unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse in konkreten Situationen, politischen Konfliktlagen oder Menschen eine zentrale Rolle spielen.
Einen politischen Entwurf einer linken Systemtransformation zu verfassen, kann daher aus meiner Sicht nur intersektional erfolgen. Statt sich immer wieder der Frage zu stellen, „welches nun der entscheidende Faktor für eine Entwicklung war“, finde ich nur noch sinnvoll, das systemische Zusammenspiel der Faktoren, deren gegenseitige Absicherung oder Widersprüchlichkeit systemtransformatorisch in den Blick zu nehmen.
Dabei kann auf die vielfältigen Vorarbeiten der linken sozialen Bewegungen zurückgegriffen werden, die klare Begriffe, Analysen und Standards für Herrschaftssituationen und emanzipatorische Verhältnisse entworfen haben. Diese linken Standards sollten auch dann, wenn insbesondere ehemals linke Parteien wie die SPD und die Grünen im rechtskonservativen Sumpf versinken, schlicht aufrechterhalten werden.
Zu diesen linken Standards oder „linken Faustregeln“ zähle ich:
- Internationalismus statt Nationalismus
- Gemeineigentum und Gemeinwohl statt Kapitalismus, Klasseninteressen und Privateigentum
- Basisdemokratie statt Autoritarismus
- Diversität statt „Normalität“
- Anti-Militarismus und Frieden statt Kriege und Rüstungsexporte
- Gleichberechtigung statt Privilegien
- Radikaler Umweltschutz statt „grünem Kapitalismus“
- Soziale Lösungen für soziale Probleme statt „Law and Order“, Repression und Überwachung
- Emotional lieber ein linksradikaler Humanismus als ein rechtsradikaler, privilegienverteidigender Anti-Humanismus
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Lars Bretthauer, Mailkontakt: –> HERE