Neue CILIP zur “Kontrolle der Polizei” / Release Veranstaltung (11.1.23, Berlin)

Die Bürger*innenrechts-Zeitschrift CILIP hat eine neue Ausgabe zum Thema “Kontrolle der Polizei” herausgegeben. Gemeint sind damit institutionelle Mechanismen, die die Arbeit der Polizeibehörden von unten kontrollieren und Fehlverhalten melden und anprangern können. Hierzu zählen Polizeibeschwerdestellen, eine Kennzeichnungspflicht einzelner Beamt*innen als Grundlage für eine Strafverfolgung, Untersuchungsausschüsse (wie im Fall des vom Verfassungsschutz mitgegründeten NSU) und das Filmen von Polizeieinsätzen durch Unbeteiligte. Ein Inhaltverzeichnis findet ihr hier [–> LINK]

CILIP veranstaltet zudem am Mittwoch, den 11.1.23 in Berlin (19h, Aquarium-Südblock) eine Release-Veranstaltung mit zwei Autorinnen aus dem aktuellen Heft. Aus der Ankündigung: “Manche Bundesländer haben eine Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamt*innen eingeführt, andere haben neue Einrichtungen zu Kontrolle und Transparenz geschaffen. In Berlin existiert beispielsweise eine neue „Polizeibeauftragtenstelle“. Gleichwohl bleiben derartige Einrichtungen hinter dem Möglichen und demokratisch Gebotenen zurück. Grund genug für die CILIP, sich im aktuellen Heft wieder dem Thema zu widmen. Auf der Release-Veranstaltung wollen wir verschiedene Ansätze beleuchten und darstellen, wie auch das Denkmal für die Opfer von Rassismus und Polizeigewalt auf dem Oranienplatz als Beschwerdestelle fungiert.” [–> LINK ZUR VERANSTALTUNG]

Gedenken: 18 Jahre nach dem Polizeimord an Oury Jalloh in Dessau

Heute vor 18 Jahren starb Oury Jalloh in einer Gefängniszelle in Dessau. Er verbrannte bei lebendigem Leib. Nachdem die Polizei den Tod Jallohs zuerst als Selbstmord bezeichnet hatte, wurde durch jahrelange, unermüdliche Arbeit der Oury-Jalloh-Initiative, die aus Familienangehörigen und Freund*innen von Jalloh und Unterstützer*innen besteht, nachgewiesen, dass sich Jalloh, dem die Hände auf den Rücken gefesselt waren, nicht selbst angezündet haben konnte, sondern von einer anderen Person in der Zelle mit Brandbeschleuniger übergossen und angezündet wurde.

Ob diese mordernde Person ein*e Polizist*in der Dessauer Polizei war oder nur von dieser unterstützend und auffordernd in die Wache gelassen wurde, konnte bis heute nicht geklärt worden. Sowohl die zuständigen Richter als auch Staatsanwaltschaften sind in den letzten Jahren äußerst behäbig bis behindernd bei den Mordermittlungen gewesen, die Spurensicherung wurde äußerst schlampig durchgeführt und jede staatliche Erwägung, dass es kein Selbstmord Jallohs gewesen war, musste von der Oury-Jalloh-Initiativen in aufwendigen Verfahrensanträgen und einer jahrelangen Öffentlichkeitsarbeit erkämpft werden.

Ich habe ein paar Quellen und Verweise zusammengetragen – als Hintergrund für den aus meiner Sicht bis heute skandalösen Fall mit wahrscheinlich rassistischem Hintergrund und als support für die heute in Dessau stattfindene Gedenkdemo.

Oury-Jalloh-Initiative

Wie gesagt wäre der Fall Oury Jalloh nicht ohne die unermüdliche Arbeit der Initiative bundesweit soweit in die Öffentlichkeit gekommen. Dieses zeigt, wie wenig automatische Öffentlichkeit es für rassistische Polizeigewalt gibt – in den meisten Fällen wird die politische Verantwortung für Todesfälle auf die Opfer abgeschoben, was aus meiner Sicht vollkommen inakzeptabel ist und in vielen Fällen eine bewusste Vertuschung darstellt. Ohne polizeikritische Initiativen somit keine Öffentlichkeit für Polizeigewalt, in diesem Fall gab es eine, von der gelernt werden kann. [–> LINK ZUR HOMEPAGE DER OURY-JALLOH-INITIATIVE]

Hörspiel zum Polizeimord an Oury Jalloh

Margot Overath hat für WDR 5 ein 5-teiliges Hörspiel produziert, in dem sie den Fall Oury Jalloh aufrollt und aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Aus der Ankündigung: “Ein Asylbewerber aus Afrika verbrennt 2005 im Polizeigewahrsam. Der an Händen und Füßen Gefesselte habe sich selbst angezündet, behaupten die Beamten. 15 Jahre lang scheitert die Justiz trotz mehrfacher Anläufe daran, den Fall aufzuklären – und macht ihn damit zum Politikum.” [–> LINK ZUM HÖRSPIEL]

Initiative “death in custody”

Da der Mord an Oury Jalloh kein Einzelfall, sondern immer wieder Persons of Colour (POC) im Polizeigewahrsam unter ungeklärten Umständen sterben, hat sich die Initiative “death in custody” gegründet, die Todesfälle von POC’s in Polizeigewahrsam einer erneuten Überprüfung unterzieht und diese überhaupt erstmal dokumentiert. Mittlerweile ist eine bundesweite Liste mit über 180 zweifelhaften Todesfällen von POC’s in Polizeigewahrsam seit dem Jahr 2000 entstanden, die eine riesige Begründungslücke darstellt und eine scharf geführte antirassistische, polizeikritische Debatte zur Folge haben muss. [–> LINK ZUR HOMEPAGE DER INITIATIVE]

Gegen die Räumung von Lützerath

Seit Anfang 2023 bereitet die Polizei in Nordrhein-Westfalen im Kooperation mit dem Energiekonzern RWE und deren hauseigenem Securities die Räumung des Dorfes Lützerath vor, dass dem Kohleabbau weichen soll. Viele Aktivist*innen sind schon dort oder fahren in den nächsten Tagen dorthin, um gegen die Räumes des Dorfes zu demonstrieren oder diese trotz zu erwartender Polizeigewalt praktisch zu verhindern.

Ich hab mal etwas recherchiert und einige Info-Sachen dazu zusammengetragen:

1.) Lesenswerter telegram Kanal, der die Lage und die unterschiedlichen Widerstands-Aktionen in Lützerath sowie Soli-Aktionen im Bundesgebiet dokumentiert. Dieser Kanal kann abonniert werden. [–> LINK ZUM KANAL]

2.) Homepage von “Lützerath lebt”, in der ihr aus ausführliche Infos in Textform findet, sowie Infos zur Anreise [–> HOMEPAGE]

3.) Den Aufruf “Lützerath unräumbar”, der von einer Vielzahl von linken Klimainitiativen wie Ende Gelände, Fridays for Future u.v.m. unterschrieben wurde, von denen auch viele vor Ort in Lützerath sind. Hier ein Auszug:

“Als breites Bündis kündigen wir Aktionen um Lützerath an, denn die Braunkohle unter Lützerath muss im Boden bleiben! Wir stehen geschlossen hinter den Aktivist*innen in Lützerath und kämpfen Seite an Seite für Klimagerechtigkeit weltweit. Gemeinsam rufen wir dazu auf, dass sich alle Aktiven auf den Weg nach Lützerath machen um das Dorf vor einer Räumung zu schützen.

Jede Minute, die der Bagger läuft und Kohle verbrannt wird, heizt die Klimakatastrophe weiter an. Als Bündnis Lützerath Unräumbar stellen wir uns der Zerstörung in den Weg! Wir sind Gruppen von Fridays For Future über Letzte Generation bis Alle Dörfer Bleiben. Wir rufen alle auf, mit uns für Klimagerechtigkeit aktiv zu werden. Unser Name ist Programm: mit vielfältigen Aktionen des zivilen Ungehorsams machen wir Lützerath unräumbar. Als bewegungsübergreifendes Bündnis bringen wir verschiedenste Akteur*innen der Klimagerechtigkeitsbewegung zusammen, die sich jeweils auf ihre Weise dem Räumungsversuch entgegenstellen werden. Von uns geht dabei keine Eskalation aus. Wir gefährden keine Menschen.” [–> Gesamter Aufruf]

Linke Medienkiste #36

Linke Elternschaft

Der Deutschlandfunk hat u.a. mit der Feministin Sarah Diehl eine Sendung zur Frage gemacht, ob es Sinn macht, in der heutigen Zeit noch Kinder zu bekommen. Für einige bestimmt eine Schwachsinnsfrage, für andere gelebte Realität angesichts von Umweltzerstörung und dem Zustand der Welt sowie den Schwierigkeiten, heute passende Erziehungspartner*innen zu finden und mit diesen Kinder großzuziehen. Hier die Sendungsankündigung, dann der Link zum Podcast:

“Kriege, Umweltzerstörung, Überbevölkerung, das lässt bei manchen die Frage aufkommen, ob es gut ist, eine Familie mit eigenen Kindern zu gründen. Und nicht wenige entscheiden sich dagegen.Der Kinderwunsch ist etwas sehr Persönliches. Für viele gehören Kinder zum Lebensweg dazu. Andere sprechen sich – aus vielfältigen Gründen – bewusst dagegen aus, was oft auf Unverständnis stößt. Gerade Frauen ohne Kinderwunsch erleben Druck aus dem Umfeld und ablehnende Reaktionen. Sie gelten manchen als Egoisten, die nichts zur Gesellschaft beitragen wollen. Doch ist das so? Oder ist es nicht sogar verantwortungsvoll, angesichts des Zustands unseres Planeten auf eigene Kinder zu verzichten?” [–> LINK ZUM PODCAST]

Linke Infrastruktur: Crowdfunding “Zukunft am Ostkreuz”

Der linke Veranstaltungsort “Zukunft am Ostkreuz” muss aus seinen Räumlichkeiten direkt am Ostkreuz raus – das gesamte Quartier wird jetzt gentrifiziert und auf Hochglanz poliert. Glücklicherweise haben die Betreiber einen neuen Ort in fussläufiger Entfernung gefunden – müssen diesen jedoch jetzt erwerben und führen dafür ein Crowdfunding durch. Hier aus dem Facebook-Post der Zukunft:

HAPPY BIRTHDAY ZUKUNFT, heute wirst du 11 Jahre alt

Und deswegen gibt es ohne Ende Neuigkeiten.

NEWS 1 Wir bauen ein neues Zuhause für die Zukunft am Ostkreuz und ziehen um! Nur 5 Gehminuten vom aktuellen Standort entfernt. Wir gehen mit einem weinenden Auge aber die Freude ist dennoch groß!

NEWS 2 Ab dem heute startet eine Crowdfunding Kampagne über startnext. Hier gibt es die Möglichkeit, für den Ausbau des neuen Geländes zu spende, damit mir möglichst schnell wieder die Türen öffnen können” [–> LINK]

Techno

Neulich ging wieder eine Aufstellung über 10 Dokus rum, die mensch angeblich über Techno gesehen haben muss. Ich hab mir die Trailer angeschaut, und fand die ehrlich gesagt fast alle nicht überzeugend – mit Ausnahme von einer Doku über den Beginn der Techno-Bewegung in Deutschland, die ich bereits gesehen hatte und die ich hier nochmal verlinke.

Terry Hall

Mitte Dezember ist Terry Hall, der Sänger der Skaband “The Specials” gestorben. Als jemand, der die künstlerische Hochzeit der Specials nicht aktiv miterlebt hat, fand ich es schon bemerkenswert, wieviele linke Leute sehr betroffen waren.

Aber wer war Terry Hall und was hat ihn ausgezeichnet? Ich habe mal etwas recherchiert und empfehle neben unzähligen Musikvideos von “The Specials” auf youtube konkret zwei Nachrufe: zum einen den Radio-Nachruf (5 min) von der Berliner Kulturjournalistin Jenni Zylka auf Radio 1, die sich aus Gender- und antirassistischer Perspektive mit der besonderen Position der Specials in der Ska-Szene und von Terry Hall als neuem Typ von männlichem* Lead Sänger beschäftigt [–> LINK ZUM NACHRUF].

Zum anderen den sehr lesenswerten Nachruf auf laut.de, der Halls Einfluss in der britischen Punk-Bewegung der späten 1970er und frühen 1980er Jahre nachzeichnet:

“Die Specials gründeten sich im Zuge der Punkbewegung im Jahr 1978 und setzten mit ihrem Label 2-Tone und dem Album-Meilenstein “Specials” eine neue Jugendbewegung in Gang. Zusammen mit den Labelkollegen “Madness” und “The Selecter” rekurrierte die Band aus Coventry auf jamaikanische Ska-Acts der 60er Jahre und kämpfte unter dem schwarz-weißen Farbbanner des Labels für Gleichberechtigung und Toleranz. Bereits 1981 bricht die Band nach zwei Studioalben auseinander, kurz nach Veröffentlichung ihres größten Hits “Ghost Town”, der die Rassenunruhen und die hohe Arbeitslosigkeit im damaligen Thatcher-England thematisiert.” [–> LINK ZUM ARTIKEL]

Linke Medienkiste #35

Feministische Aufstände im Iran

Fussball-WM in Katar

Guter 4min-Videobeitrag vom ZDF über die Situation von Gastarbeitern in Katar während der WM. Situation: die Gastarbeiter*innen haben keinen Zugang zu den Public Viewing Bereichen, arbeiten monatelang ohne Lohn und werden dann von staatlichen medizinischen Institutionen noch zu Organspenden überredet [–> Video]



Gesichtserkennung im Netz

Gute, kritische Recherche von Sebastian Meineck und Stefanie Talaska zu Gesichter-Suchmaschinen im Netz: “PimEyes ist eine Gesichter-Suchmaschine, auf der du das Foto einer Person hochlädst, und dann kommen noch mehr Fotos dieser Person, plus die Links zu den Fundorten im Netz. Als ich das 2020 gesehen habe, dachte ich: Das wird nie im Leben so funktionieren. Technisch möglich wäre das, aber einfach so offen im Netz würde das niemand anbieten, viel zu krass.

Ich habe dann ein Foto von mir hochgeladen, das ich überall als Profilbild verwende, und im nächsten Moment wusste ich: Wow, diese Suchmaschine funktioniert doch! Und zwar richtig gut. Die Gesichter-Suchmaschine hat viele andere Fotos von mir gefunden, einige Uploads kannte ich noch nicht.” [–> ARTIKEL]

Klimakatastrophe

Die Klimaforscherin Maja Göpel ist letztes Jahr im rbb von Jörg Thadeusz interviewt worden, und fühlte sich irgendwann von seinen Fragen und Statements wie “Ich hab mir auch schonmal einen SUV gekauft…weil ich dort so gut einsteigen konnte” so provoziert, dass sie ihm deutlich die Meinung gegeigt hat.

Auch und vor allem über die subtile Unterstellung von Journalist*innen an Klimaforscher*innen, dass jene mit ihren polit-ökonomischen Vorschlägen von Konsumrückgang und Verzicht total selbstbezogen und -zufrieden seien. Insgesamt sehr erfrischende 90 Sekunden, und in der Sache total richtig. [–> VIDEO]

Klima-Volksentscheid Berlin

Der berliner Klima-Volksentscheid, der das Quorum für eine Durchführung erreicht hat, kämpft momentan darum, parallel zur Nachholungs-Wahl in Berlin abgestimmt zu werden. Bisherige Position der berliner Verwaltung: zu aufwendig, zu wenig Zeit, irgendwann später. Dagegen wird nun protestiert.

Zerocovid: Positionierung zu Protesten gegen staatliche Corona-Politik in China

Weil ein Bekannter gerade auf facebook fragte, ob Leute, die bei der deutschsprachigen Zerocovid-Initiative waren, nicht was zu den Protesten gegen die Corona-Politik in China, die auch unter dem Namen “Zerocovid” firmiert, sagen wollen, hier meine Antwort:

“Ich würde gerne was dazu sagen, finde es aber schwierig, einfach weil ZC als Teil der sozialen Realität (China) und ZC als politische Forderung (Doischland) so unterschiedlich sind. Sicherlich können diese über den Namen “Zerocovid” gebündelt werden, aber ich weiss nicht, ob es am Ende nicht einen krassen post-kolonialen Touch bekommt, weil dann wieder differenziert werden muss.

Ich finde Zerocovid als deutschsprachige Initiative eigentlich weiterhin unerlässlich, weil die Politik der Seuche weiterhin da ist – siehe Infektionen, Todeszahlen, Umgang mit Longcovid, Lage im Gesundheits- und Pflegesektor, geistige Eigentumsrechte auf Impfstoff, u.a. bei Biontech u.v.m.. Ich verstehe aber auch, dass gerade kaum eine*r Kapazitäten dafür hat, mir inklusive.

ZC war zudem gerade in der Frage der politischen Steuerung nicht homogen, würde ich sagen: ich hatte zu Beginn immer wieder das Bedürfnis vor zu starken top-down-Vorstellungen zu warnen, die dann – da ZC linkskonnotiert war – als Stalinismus gedeutet werden könnten. Oder als “rücksichtsloses Regieren für den höheren Zweck”, der dann z.B. klassenpolitische, geschlechtspolitische oder rassistische Realitäten ignoriert, und die Seucheneindämmung über alles setzt.

Was aus meiner Sicht aber aussteht, ist eine Auswertung der gefahrenen Covid-Strategie und wie die linken Alternativen im Nachhinein bewerten werden.”

Russland-Ukraine-Konflikt: linke Positionen

Im Folgenden sollen erneut Positionen anti-militaristischer und friedenspolitischer Gruppen zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dokumentiert werden.

Anti-Imperialistische Positionen: Solidarität mit linken ukrainischen Gruppen

Ein internationales Autor*innen-Kollektiv hat in Reaktion auf einen Artikel, der eine quasi-Kapitulation der ukrainischen Armee angesichts der russischen Übermacht und der zerstörerischen Kriegsdynamik fordert, im August eine anti-imperialistische Position ausformuliert, die sich auf die linken Kräfte in der Ukraine als Bezugspunkt linker deutscher Politik stützt. Die innerukrainische Linke sei weder mit der ukrainischen Regierung gleichzusetzen noch mit den Interessen der NATO im Russland-Ukraine-Konflikt. Stattdessen müsse eine solidarische Perspektive die Selbstbestimmungsansprüche jener linken ukrainischen Kräfte in den Blick nehmen und diese unmittelbar stärken:

„Die ukrainische Bevölkerung führt keinen »Stellvertreter-Krieg« der Nato gegen Russland, sondern kämpft für ihre eigene Unabhängigkeit sowie für demokratische und soziale Rechte, die sie unter russischer Besatzung verlieren würde. Die verheerende Menschenrechtssituation in den sogenannten Volksrepubliken im Donbas ist als wahrscheinliche Perspektive unter einem Besatzungsregime Drohung genug.“

Das Autor*innen-Kollektiv äußert sich nicht zur Frage von staatlichen Waffenlieferungen, sondern verweist zum einen darauf, wie stark die Ukraine ein Knotenpunkt der polit-ökonomischen Interessenslagen unterschiedlicher internationaler Akteure ist, und welche Eigeninteressen linke Akteure in der Ukraine im Unterschied dazu haben. In diesem Spannungsfeld müssten internationale solidarische Beziehungen etabliert werden:

„Unsere Solidarität gilt dem bewaffneten und unbewaffneten Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen die russischen Besatzungstruppen. Ganz besonders unterstützen wir die Feminist*innen, Sozialist*innen und Anarchist*innen, die sich sowohl mit zivilen als auch militärischen Mitteln politisch eigenständig an diesem Widerstand beteiligen. Wir solidarisieren uns mit den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in der Ukraine, die sich der neoliberalen Wirtschaftspolitik widersetzen und für einen sozialökologischen Wiederaufbau einstehen. Wir stehen selbstverständlich auch an der Seite der sozialistischen, feministischen und anarchistischen Kräfte in Russland und Belarus, die sich ihren Herrschern trotz großer Gefahren und Risiken mutig widersetzen.“ [–> ARTIKEL]

Antimilitaristische Debatte zu Waffenlieferungen in die Ukraine

Die Hamburger Gruppe „Blauer Montag“ hat in der August-Ausgabe von Analyse & Kritik eine dezidierte Kritik pauschaler deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine formuliert:

„Wir haben auch keine Antworten darauf, wie der Krieg beendet werden kann und was der Beitrag der marginalisierten deutschen Linken dafür wäre. Aber eine Unterstützung der politischen Klasse in Deutschland beim Export von Waffen in diesen Krieg ist aus unserer Sicht eine Preisgabe bisheriger antimilitaristischer Grundpositionen und keinesfalls ein Akt internationaler Solidarität mit »der Linken« in der Ukraine.“

Statt dessen müsse eine anti-militaristische Debatte eine konkrete Folgeabschätzung deutscher Waffenlieferungen vornehmen, und diese qualitativ einordnen: „Das Mindeste, was wir uns selbst als antimilitaristische Linke in Deutschland und auch die Genoss*innen in der Ukraine fragen müssen, ist doch, was die Forderung nach Waffenlieferung in der jetzigen Situation konkret bedeutet: Kommen die Waffen in die Hände linker Bewegungen oder sind es Waffenlieferungen für die ukrainische Armee? Welche Haltung hat eine Linke hierzulande und in der Ukraine, die in der jetzigen Situation für Waffenlieferungen und damit für eine militärische »Lösung« eintritt, zu Kriegsdienstverweigerung und Desertion?“

Diese Fragen seien im scharfen Gegensatz zum grünen Militarismus der Grünen essentiell für eine anti-militaristische Debatte, nicht zuletzt wegen der dort immer wiederholten Banalisierung der Kriegsfolgen: „Ein Krieg ist keine Hinterhofschlägerei. Der Krieg verwüstet Territorien, Gesellschaften und Menschen, und zwar auf Jahre und Jahrzehnte. Niemand geht aus einem Krieg unbeschadet heraus, weder Sieger*innen noch Besiegte.“ [–> ARTIKEL]

Antimilitarische Praxis: Beispiele

Die Informationsstelle Militarisierung hat eine lesenswert Übersicht von 6 antimilitaristischer Gruppen und deren Handlungsfeldern veröffentlicht, u.a. „rheinmetall entwaffnen“ und das „RüstungsInformationsbüro“. [–> ÜBERSICHT]  

IPPNW: Zivile Konfliktlösungsmöglichkeiten

Die „IPPNW – Deutsche Sektion der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzt*innen in sozialer Verantwortung“ hat Ende August eine sehr lesenswerte Broschüre über die unterschiedlichen zivilen Handlungsmöglichkeiten und Forderungen zum Russland-Ukraine-Krieg herausgebracht. Dieser liefert sowohl eine sehr gute historischen Einführung in die bisherigen verhandlungspolitischen Versuche, den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vor und nach dem Kriegsausbruch diplomatisch zu lösen – und lotet die Spielräume aus, diesen Weg konsequent weiterzuverfolgen.

Dabei wird deutlich wie komplex die geostrategische Einbindung des Russland-Ukraine-Konflikts in die Interessenslagen anderer Bündnisse wie der NATO, oder Staaten wie der Türkei oder Deutschlands ist – und wie gering bei dem aktuellen Kriegsverlauf die „Verhandlungsmasse“ zwischen Russland und der Ukraine ist. Dennoch dürfe das Ansinnen einer zivilen Konfliktlösung nicht aufgegeben werden.

In diesem Sinne analysiert der Bericht auch die immer weiter zunehmende Kriegsdynamik: von der hohen Anzahl von Kriegsopfern, vom im Westen immer beschworenen „Mythos erlösender Gewalt“, der mit laufendem Kriegsgeschehen immer weiterzunimmt, über schärfer werdende Feindbilder bis zur Gefahr eines Atomkrieges. [–> Broschüre]

Konferenz: der Ukraine-Krieg und Aufrüstung

Die “Informationsstelle Militarisierung” veranstaltet Ende November eine Konferenz, die sich mit der geostrategischen Einordnung des Russland-Ukraine-Kriegs und den Folgen für die globale militärische Infrastruktur beschäftigt, wobei der Schwerpunkt auf der deutschen Bundeswehr liegt: 

“Im Jahr des russischen Angriffs auf die Ukraine wird sich der Kongress der Informationsstelle Militarisierung mit der Vorgeschichte des Konflikts und den Folgen insbesondere in Deutschland auseinandersetzen. Abseits der konkreten Gefechte und Frontverläufe wird der Krieg in der Ukraine als Konflikt der Großmächte und Stellvertreterkrieg analysiert und ein genauerer Blick auf westliche Sanktionen und Waffenlieferungen geworfen. Auch die zahlreichen Reformen der NATO- und Bundeswehrstrukturen und die Verwendung der deutlich erhöhten Rüstungsausgaben werden ausführlich aufgearbeitet.

Schon jetzt ist zudem absehbar, dass interessierte Kreise auf eine Verstetigung des Bundeswehr-Sondervermögens drängen werden, eine Auseinandersetzung, die in wenigen Jahren von zentraler Bedeutung sein wird und auf die es bereits heute gilt, sich vorzubereiten. Wir wollen jedoch auch einen Blick auf die möglichen Alternativen werfen: Welche Konzepte bestehen für den gewaltfreien Widerstand gegen Krieg und Besatzung, welche „Sicherheitsarchitekturen“ können ein friedliches Zusammenleben in Europa ermöglichen und welche Aufgaben bestehen aktuell für die Friedensbewegung?” [–> Kongress-Seite]

Petition: Schutz und Asyl für Deserteure und Verweigerer

Der anti-militaristische Verein Connection e.V. hat zusammen mit anderen NGOs eine Petition gestartet, die die europäische Kommission, den Rat und das Parlament aktiv dazu auffordert, Deserteuren und Kriegsdienstverweigerer*innen aus der Ukraine, Russland und Belarus politischen Schutz und Asyl zukommen zu lassen.

Aus dem Petitionstext: „Wir forden Sie auf: Geben Sie Deserteuren und Verweigerern aus Belarus und der Russischen Föderation Schutz und Asyl! Fordern Sie die ukrainische Regierung auf, die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern einzustellen und ihnen ein umfassendes Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu garantieren! Öffnen Sie die Grenzen für diejenigen, die sich unter hohem persönlichen Risiko in ihrem Land gegen den Krieg stellen!“

Zielstellung der Petition ist es, den internen Widerstand gegen jegliche Form von Kriegshandlungen zu unterstützen, und dadurch eine Friedensdynamik zu erzeugen. [–> Petition]

Überblick: Anzahl der wehrpflichtigen, geflüchteten Männer* aus Russland, Ukraine, Belarus

Der Verein Connection e.V. hat versucht, die Anzahl jener wehrpflichtigen Männer* zu schätzen, die seit Kriegsbeginn aus dem Konflikt geflüchtet sind. Insgesamt kommt die NGO auf ca. 150.000 geflüchtete Wehrfähige aus Russland (bis zur Teilmobilmachung), ca. 145.000 Geflüchteten aus der Ukraine und ca. 22.000 aus Belarus. Gleichzeitig betont sie die hohe Dunkelziffer, da insbesondere viele Geflüchtete aus der Ukraine sich angesichts der kriegseuphorischen Diskurse vor Sanktionen oder Stigmatisierungen fürchten würden:

„In der Öffentlichkeit ist kaum bekannt, dass so viele Männer aus der Ukraine geflohen sind, die sich dem Kriegseinsatz entziehen. Es gibt auch fast niemand, der mit seiner Geschichte (auch anonymisiert) an die Öffentlichkeit gehen will. Bei Connection e.V. erhalten wir fast täglich Anfragen zu ukrainischen Verweigerern, fast immer aber von Angehörigen oder Freunden, ganz selten von den Betroffenen selbst.

Wir gehen davon aus, dass zum einen das öffentliche Interesse viel stärker fokussiert ist auf die Verweigerung in Russland (und Belarus). Zudem haben die ukrainischen Verweigerer aktuell keinen Anlass, darüber zu sprechen, da sie in der Europäischen Union zumindest befristet einen humanitären Aufenthalt bekommen. Darüber hinaus befürchten sie wohl Diffamierung und die Brandmarkung als Verräter und bleiben daher lieber im Hintergrund.“ [–> BERICHT]

Linke Medienkiste #34

 

CRITICAL WESTNESS: GESCHICHTE RECHTEN TERRORS IN DER BRD

Im Gedenken an die rechtsradikalen Pogrome in Rostock-Lichtenhagen als Beispiel für rechte Politik in Ostdeutschland im Jahr 1992 wird oft vergessen, dass in den 1980er Jahren bereits eine Welle rechtsterroristischer Aktionen in der damaligen BRD stattfand. Der Artikel von Ulli Jentsch aus dem Antifa-Infoblatt von 2010 beleuchtet diese und kommt zu folgendem Schluss:

“Der Beginn der 1980er Jahre war die blutigste Zeit des Rechts-Terrorismus, in Deutschland ähnlich wie in Frankreich oder Italien. Ein europäisches Netzwerk hatte sich während der 1970er Jahre formiert, verfügte über Verbindungen zwischen den wichtigsten Filialen des Terrors und auch über personelle Kontakte. Allein bis 1982 wurden von den bewaffneten Neonazi-Terroristen in Deutschland über 20 Menschen ermordet, auch einige Neonazis ließen ihr Leben. Eine Handvoll Organisationen mit einigen Dutzend AktivistInnen agierte erstaunlich selbstbewusst, zum Teil öffentlich; sie besaßen ein Reservoir jugendlicher SympathisantInnen in Wiking-Jugend und Jungen Nationaldemokraten. […]

Die Rolle der alten Nazis im Polizeiapparat, vor allem in den Kriminalpolizeien der Städte und Gemeinden, ist in diesem Zusammenhang völlig unerforscht. Viele Ermittlungsbehörden blendeten die politische Motivation der Täter aus und erklärten sie schnell zu psychopathischen Einzeltätern. Die Suche nach Hintermännern blieb AntifaschistInnen und engagierten JournalistInnen überlassen.” [–> LINK ZUM ARTIKEL]
 
 

ROSTOCK-LICHTENHAGEN

Katharina Warda zeichnet in ihrem lesenswerten Artikel “Eine Stadt, ein Pogrom und die Gegenwehr” die Ereignisse rund um die rechten Anschläge in Rostock-Lichtenhagen nach. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Perspektive Betroffener, der Gegenwehr von antifaschistisch organisierten Kräften vor Ort, der Frage, wie sich Rostock seit den Pogromen verändert hat und der Bedeutung von Rostock-Lichtenhagen für die bundesdeutsche Geschichtsschreibung:   

“Der Historiker Poutrus bezeichnet Rostock-Lichtenhagen als konstitutives Moment, als „innere Staatsgründung“ der Berliner Republik. Fester Bestandteil: die Das-Boot-ist-voll-Rhetorik. Die SPD stimmt einem faulen Asylkompromiss zu. „Das Thema wird als politisches Problem behandelt, nicht als humanitäre Frage, und unabhängig davon, welchen Gefahren die eigentlichen Betroffenen ausgesetzt sind,“ sagt Poutrus. „Bezeichnend für dieses Moment ist auch die Straflosigkeit der Tä­te­r:in­nen, die eine Art Normalisierung und Legitimation erfahren haben.“” [–> LINK ZUM ARTIKEL]
 
 
 
SEXUALISIERTE GEWALT IN LINKEN STRUKTUREN
 
Bilke Schnibbe stellt in ihrem für Analyse & Kritik verfassten Artikel “Verräter gehen, Vergewaltiger bleiben” anlässlich des Umgang mit Johannes Domhöver, einem Angeklagten aus dem Antifa-Ost-Verfahrens, dem sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden, die Frage, warum der szeneinterne Umgang mit Leuten, die mit der Polizei zusammenarbeiten, und jenen, denen sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden, so unterschiedlich ist.
 
 
Schnibbe reflektiert dabei entlang eigener Erfahrungen die unterschiedlichen Formen feministischer Selbstorganisierung im Hinblick darauf, wie Betroffene sexueller Gewalt unterstützt werden können und wo die Möglichkeiten und Grenzen von “linker Täterarbeit” liegen. Dieses bezieht sich auf die ressourcenintensive langfristige Auseinandersetzung mit jenen, denen sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden – und dem Umstand, dass Versuche, solidarische Bezüge zu etablieren und Reflektionsprozesse anzustossen von den Beschuldigten unterlaufen werden können. [–> LINK ZUM ARTIKEL
       
 
SEXUELLE ÜBERGRIFFE
 
 
Spiegel-Online berichtet über ein von kanadischen Feministinnen entwickeltes Handzeichen, das in konkreten Übergriffssituationen als Notsignal helfen soll: 
 
“Es ist eine simple Geste, aber sie bietet Opfern von Gewalt die Möglichkeit, heimlich Hilfe zu rufen: Erst wird die Handfläche geöffnet und der Daumen nach innen angewinkelt. Anschließend werden die restlichen Finger auf den Daumen gelegt, sodass eine Faust entsteht. Auf diese Weise hat eine 14-Jährige in Rheinland-Pfalz auf eine mutmaßliche Vergewaltigung hingedeutet. […]
 
Ausgedacht haben sich diese Bewegung Frauen der »Canadian Women’s Foundation« . Die Organisation setzt sich für Geschlechtergerechtigkeit in Kanada ein – und entwickelte das »Violence At Home Signal For Help« im Jahr 2020. Der Hintergrund: In der Pandemie hatten sich Fälle häuslicher Gewalt seither vervielfacht.”
 
Dieses Signal wurde von einer jungen Frau in Ludwigshafen in einer Übergriffssituation so verwandt, dass Passant*innen Hilfe holten. [–> LINK ZUM ARTIKEL]

30 Jahre rechtes Pogrom in Rostock

CHRONOLOGIE DES POGROMS

Der Dokumentarfilm “Die Wahrheit lügt (liegt) in Rostock” von 1993 rekonstruiert die Ereignisse aus dem August 1992. Aus der Selbstbeschreibung des Films: 

“Die Videoproduktion „The Truth lies in Rostock” entstand 1993 unter maßgeblicher Beteiligung von Menschen, die sich zum Zeitpunkt der Geschehnisse im attackierten Wohnheim befanden. Deshalb zeichnet sich die Produktion nicht nur durch einen authentischen Charakter aus, sondern versteht sich auch Jahre danach als schonungslose Kritik an einer Grundstimmung in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die Pogrome gegen Migranten oder einfach nur „anders aussehende” überhaupt erst möglich macht.

Eine Montage von Videomaterial, gedreht aus den angegriffenen Häusern heraus, Interviews mit Anti-FaschistInnen, den vietnamesischen VertragsarbeiterInnen, der Polizei, mit Bürokraten, Neonazis und Anwohnern. Eine Dokumentation über das heimliche Einverständnis der Politik und über die verbreitete Angst.”

CRITICAL WESTNESS

Die rechtsradikalen Mobilisierungen und Gewalttaten der frühen 1990er Jahre werden meist als “ostdeutsches Phänomen” verstanden, obwohl mit Solingen und Mölln zwei westdeutsche Städte unter den prominentesten Orten sind, an denen rassistische, rechte Morde passierten. Die Historikerin Franka Maubach setzt sich daher kritisch mit der stereotypen, west-entlastenden Perspektive auf die Pogrome in Rostock auseinander: 

“Statt das Geschehen von den Tätern und ihren Taten her zu erzählen, sollten wir es von den Opfern her aufschlüsseln. Und statt Lichtenhagen bloß als ostdeutsche Geschichte zu verstehen, sollten wir die Kontinuitätslinien nachziehen, die nicht nur in die DDR, sondern gerade auch in die alte Bundesrepublik führen. Denn der Diskurs über Ost- als Dunkeldeutschland bot und bietet eine bequeme Ausrede, sich nicht mit dem spezifischen Rassismus Westdeutschlands auseinandersetzen zu müssen, der vor allem in den Achtzigerjahren virulent wurde. Mit der Vereinigung wuchsen dann der ostdeutsche und der westdeutsche Rassismus zusammen, verstärkten einander und stießen eine Gewaltdynamik an, die beide Teile Deutschlands erfasste und bis heute prägt.” [–> LINK ZUM ARTIKEL]

ERFAHRUNGSBERICHTE

Fabian Hillebrand und Vanessa Vu haben für Zeit-Online unter dem Titel “Das Pogrom und wir” eine Reihe von eindrücklichen Erfahrungsberichten von jenen zusammengetragen, die als Betroffene oder als Zeug*innen bei dem Pogrom dabei waren. Ein Beispiel hier, der Rest im Artikel [–> LINK]. 

ERINNERUNGEN AUF SOCIAL MEDIA

Ich habe mal auf social media nach posts geschaut, die sich mit der linken Erinnerung an die Pogrome von Rostock und Schlüssen für die heutige politische Situation in Deutschland auseinandersetzen. Hier eine kleine Auswahl: 

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[–> LINK ZUR DEMO-WEBSITE MIT AUFRUF]

MIGRANTISCHE PERSPEKTIVEN

Massimo Perinelli beschreibt in einem sehr lesenswerten Beitrag migrantische Perspektiven auf die Pogrome in Rostock im Jahr 1992. Diese besteht zum einen in den Erfahrungen gewalttätiger Übergriffe rechter Gruppen auf migrantisch gelesene Personen und der offenen Zustimmung und Unterstützung von Teilen der lokalen Bevölkerung hierzu: 

“Das Pogrom begann am 22. August, einem Samstag, als Neonazis anfingen, die Menschen vor dem Haus anzupöbeln und zu schlagen. Mehr und mehr Anwohner*innen kamen hinzu und feuerten die Täter an. Die Angriffe steigerten sich in der Nacht und wurden am Sonntag mit zunehmender Brutalität fortgeführt. Als am Montag die Flüchtlinge unter starkem Polizeischutz evakuiert wurden, feierte der Mob. Der »Abtransport«, wie es damals polizeideutsch hieß, bedeutete für viele Roma faktisch die Abschiebung. Ihre erzwungene Abwesenheit in der erinnerungspolitischen Auseinandersetzung mit dem Pogrom führt bis heute dazu, die antiziganistische Dimension dieses Verbrechens zu übersehen. […] 

In Lichtenhagen ging der Mob am Montagabend mit Steinen und Molotowcocktails schließlich gegen das Sonnenblumenhaus vor, in dem circa 150 ehemalige Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam wohnten, unter ihnen auch Kinder. Die Polizei zog ab, während die Nachbarn die Rettungswege zu den angrenzenden Häusern mit Eisenketten versperrten.” 

Die Betroffenen leisteten jedoch zum anderen direkten Widerstand gegen die Angriffe und organisierten sich nach dem Pogrom in eigenen Organisationen, die eine juristische und politische Aufarbeitung einforderten: 

“Wie Nguyen Do Thinh, ein Bewohner des Sonnenblumenhauses, unlängst in einem Interview mit »Zeit-Online« betonte, war es vor allem die entschlossene und disziplinierte Gegenwehr der Vietnames*innen selbst, die eine Erstürmung des Hauses und letztlich den Tod von über 100 Menschen verhinderte und schließlich auch die Flucht vor dem Feuer über das Dach ermöglichte. Nur wenige Tage später gründeten die Überlebenden den Verein Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach, der bis heute eine maßgebliche Rolle bei der Aufarbeitung dieses Pogroms spielt.” [–> LINK ZUM ARTIKEL]

Umbenennung des Heinrichsplatz in Kreuzberg in Rio-Reiser-Platz

Ich hatte gestern eine längere Debatte über die Einweihung des „Rio-Reiser-Platzes“ in Kreuzberg, Ex-Heinrichsplatz. Ich war dagegen, primär weil sich Kiez-Anwohner*innen darüber beschwert haben, dass eine Art linke Folklore um Rio und Ton Steine Scherben in Kreuzberg etabliert wird, während sie selbst einem massiven Gentrifizierungs- und Verdrängungsdruck unterliegt und wegziehen müssen. Im Ergebnis empfinden viele Leute rund um den Ex-Heinrichsplatz die “linke” Platzumbenennung als „zynisch“ – auch weil natürlich linke Folklore selbst teil von Gentrifizierungs- und Aufwertungsprozessen ist.

Hinzu kommt, dass Akteure, die eigentlich etwas gegen Gentrifizierungsprozesse und die kapitalistische Zurichtung Berlin tun müssten, es aber nicht tun, weil sie selbst Teil eines neoliberalen Blocks sind, in dem Prozess der Umbenennung stark sichtbar sind und das „links sein“ für sich reklamieren. Symbolisch kann hier vielleicht die Beteiligung von Claudia Roth von den Grünen bei der heutigen Umbenennungsfeier genannt werden. Roth, die Teil der HartzIV-Regierung war, die zur massenhaften Verarmung von Leuten geführt hat; Roth, die Mitglied bei den Grünen ist, die in Berlin den Enteignen-Volksentscheid nicht konsequent umsetzen, sondern sich von der Giffey-und-Geisel-SPD am kapitalorientierten Gängelband durch die Koalitions-Manege führen lassen; Roth, die mal Managerin von Ton Steine Scherben und damit direkter Teil der Geschichte von Rio Reiser und linker Kulturproduktion in D war; und Roth, die jetzt in der neuen Ampel-Regierung die Kulturbeauftragte ist, und die nun für sich behaupten kann, dass in ihrer Amtszeit die Umbenennung des Platzes in „Rio-Reiser-Platz“ stattgefunden hat, und somit durchaus „progressive Dinge“ passieren. Was natürlich nicht so ist. Die Gentrifizierung Berlins geht immer weiter voran, mit allen bitteren sozial- und kulturpolitischen Folgen.

Mein Gesprächspartner fand meine Position zu negativ und defätistisch, und hat darauf beharrt, dass es wichtig ist, von links in solche Prozesse zu intervenieren, und nicht den Kopf in den Sand zu stecken. Auch weil jener “Heinrich”, nach dem der Platz bisher benannt war, wahrscheinlich ein König war. Haha, good point. Und er hat die Frage gestellt, was denn eine adäquate linke Aktions- und Praxisform gegen und in eine neoliberale Stadtpolitik mit linkem und linksliberalem kulturpolitischen Anstrich ist, die aber systematisch die sozialpolitische Frage ausblendet.

Die Frage fand ich sehr berechtigt, aber mehr als (a) ein Dixi-Klo während der Einweihungsfeier auf den Platz zu schieben und anzuzünden und anzuzeigen, dass das eine angemessene Form wäre, um Rio und den Scherben in der aktuellen Situation Berlins zu gedenken, oder (b) ein Transpi zu malen, auf dem steht „Wir brauchen keinen Rio-Reiser-Platz – Wir müssen hier raus!“ oder (c) das „Reiser“ mit „Grande“ zu überkleben, ist mir auch nicht eingefallen 😉.

Vielleicht fällt euch ja was ein. Ich hab diesen Beitrag nur geschrieben, um zu kommunizieren, dass die Platzumbenennung sehr umstritten ist, und dass ihr Euch nicht unmittelbar folkloristisch abholen lasst, wenn ihr die Plakate für die Einweihungsveranstaltung seht oder von der Umbenennung hört.