November Lockdown

für alle, die es bisher nicht sehen konnten: hier die 50 minütige pressekonferenz von merkel, söder und müller von gestern zum lockdown. irgendwie eine grundsteinlegung für die kommende zeit.

um es vorab zu sagen: ich kann persönlich und allgemeinpolitisch mit dem lockdown leben.

aber der “solidaritäts-diskurs”, der gerade von neoliberaler und neokonservativer seite als deutungsrahmen der “zweiten welle” eröffnet wird, warum es den lockdown geben sollte, ist aus meiner sicht nur zynisch und ein hegemonialer frontalangriff auf eine linke kritik der gegenwärtigen bundesdeutschen politik.

hierzu zähle ich:

leugnung der negativen effekte neoliberaler sparpolitik in den bereichen gesundheit und bildung, die erst die grundlage für “zu wenig krankenhausbetten” und “probleme bei der beschulung” darstellen

– dadurch zusätzliche abwälzung von care- und sozialer arbeit auf lehrer*innen / kita-erzieher*innen / pflegende, und das OHNE entsprechende ausstattung der arbeitsstätten, schutzmaßnahmen oder gar zusätzliches entgeld

instrumentalisierung von linken bewegungsdiskursen, um legitimität für den lockdown zu schaffen, obwohl es insbesondere die neokonservativen seit jahrzehnten einen scheissdreck interessiert, wie es zum beispiel “verprügelten frauen und kindern” geht. die kräfte, die dieses jetzt zum anlass für das aufrechterhalten von schule und kita nehmen, damit keine häusliche gewalt stattfinden, sind die gleichen kräfte, die die programme der frauenhäuser und -notrufe und der jugendhilfe über jahre gestrichen und permanent in frage gestellt haben. kiss my ass.

– in diesem sinn auch: eine instrumentalisierung einer durch covid ausgelösten “sozialen krise”. wenn ich spd-müller reden höre, denke ich wirklich, es hätte den sozialdemokratischen neoliberalismus und hartz iv nie gegeben. für einen relevanten teil der bevölkerung ist die “soziale krise” doch staatlich und besonders von der spd unter rot-grün bereits verordneter alltag – und zwar seit jahren. armut, hunger, schlechte gesundheit, keine kulturelle teilhabe. dass sich jetzt ausgerechnet die spd hinsetzt, und die sozialen belange vertreten will, ist nur noch hohn gegenüber jenen, auf deren rücken sich die spd profiliert hat und dieses nun wieder versucht.

– die instrumentalisierung des solidaritätsgedankens: ist bereits oben fast alles zu gesagt, remember: spaltung der gesellschaft in arm und reich, klassenkampf von oben durch gängelung und stimatisierung von armen usw.. ich will nur sagen, dass merkels “wir müssen jetzt” (analytisch-wissenschaftlich gepaart mit paternalistischen diskursen), söders “wir schaffen das – alle zusammen und gemeinschaftlich” (sportlich-politisch mit bayerischem daddy-karma) und müllers “ich weiss auch nicht. ich wollte nicht, ich musste aber, ich bin so traurig” (lehrling, der erwachsen wird) drei unterschiedliche ausformungen der selben sache sind. einem systemkonformen aneignung des solidaritätsbegriffs. hier gilt es sich aus emanzipatorischer, linker perspektive zu widersetzen.

– schließlich kann eine grundsätzliche werteorientierung auf 2 sachen beobachtet werden: “arbeit / wirtschaft” und “schule”. aus meiner sicht stellt dieses vielleicht die krasseste normierung dar, die mit dem lockdown einhergeht. das individuelle kerngeschäft wird im alten cdu-sinne neu definiert, back to the west-german-roots. in wahrheit sind die schulen kurz davor zu kollabieren (aber darüber redet die grosse koalition nicht) und der kapitalismus wird nicht dahingehend befragt, was denn eigentlich gerade wirklich “systemrelevant” ist und was dienstleistungsbullshit, der auch ein halbes jahr ruhen kann, ohne dass es jmd auffällt, ausser dem virus, weil der kann sich dann weniger weiterverbreiten.

und ich kann die frage nach “wer soll das denn bezahlen, wenn leute nicht arbeiten?” nicht mehr hören – es gibt genug instrumente, um geld reinzuholen, von der reichensteuer, erbschaftssteuer, finanztransaktionssteuer usw. alleine cum-ex hat den bund 50 MILLIARDEN an steuern gekostet. nur mal so als ersten schritt. aber da hängt ja der bundesfinanzminister scholz mit drin, darum lieber pscht pscht und “alle zusammen”.

ich finde, es ist zeit für eine gegenhegemoniale debatte zu diesen punkten, weil sonst ist die neoliberale und neokonservative “cdu-spd-welt” nach corona so dominant, dass die gesellschaftspolitische linke sich sehr lang machen werden muss, um dagegen anzukommen. und da habe ich persönlich keinen bock drauf.

Corona-Update #10

Handlungsleitfaden für Alltag

Die Corona-Forscherin Isabella Eckert hat eine Reihe von Punkten zusammengetragen, die aus ihrer Sicht praktisch angemessen im Umgang mit Corona sind. Auch wenn mir diese an einigen Stellen noch zu unsozial sind bzw. irgendwie eine Kernfamilie “im Hintergrund” voraussetzen, fand ich die Übersicht doch ganz hilfreich –> TEXT

Privatverschuldung

Julia Wasenmüller hat für die Rosa-Luxemburg eine interessante Studie über die Folgen der ansteigenden Privatverschuldung während Corona geschrieben: “Dieser Text soll dazu anstoßen, grundsätzlicher über das aktuelle Schuldensystem nachzudenken, das Thema Privatverschuldung aus verschiedenen aktivistischen Praxisfeldern heraus zu beleuchten und in die jeweiligen politischen Agenden zu integrieren. In Argentinien haben Feminist*innen den Schuldenbegriff in den vergangenen Jahren vermehrt politisiert und in ihre Kämpfe aufgenommen. Ausgehend von den Leerstellen im deutschsprachigen Diskurs stellt sich die Frage, was sichtbar wird, wenn wir uns von der argentinischen Debatte inspirieren lassen. Können wir an Organisierungsimpulse und Praxisbeispiele anknüpfen und sie produktiv auf die aktuelle Situation in Deutschland beziehen? –> TEXT

Skepsis gegenüber dominanter Corona-Interpretation und -politik

Corona-Statistik: Corona bedeutet auch den Kampf um Daten und deren Interpretation. Wie hoch sind Sterberate, Infektionsrate – wie sinnvoll ist das Tragen von Masken? Das corona-skeptische Swiss Policy Research Institute hat hierzu statistikbasierte 30 Thesen veröffentlicht, die belegen sollen, dass die gegenwärtigen Eindämmungsmaßnahmen in die falsche Richtung gehen. Statt dessen setzt das SPR auf eine Immunisierungsstrategie. Maßgabe hierfür ist, dass deutlich weniger Leute direkt an Corona sterben als bisher angenommen und die negativen gesundheitlichen Folgen der Eindämmungsstrategie deutlich gravierender sind –> THESEN

Corona-Sterblichkeit: Rene Gottschalk, Leiter des Frankfurter Gesundheitsamts hat in einem Bericht die “Eindämmung” als ausschließlichen Schwerpunkt der bisherigen Corona-Bekämpfungsstrategie kritisiert. Diese führe zum Zusammenfall auch jener Strukturen in den Gesundheitsämtern, die eigentlich für die Bekämpfung der Pandemie zuständig sein sollten. Daneben berichtete Gottschalk, dass es seinen Daten zufolge im ersten Halbjahr keine Übersterblichkeit in den Deutschland gegeben hätte, und die Corona-Fälle der zweiten Welle ab August von deutlich weniger schweren Krankheitsverläufen und weniger Krankenhauseinweisungen bekennzeichnet gewesen seien –> ARTIKEL

Corona-Tests: Der Mikro- und Molekularbiologe Andreas Bermpohl hat in einem Interview auf die ungenügende Aussagekraft der vom Robert-Koch-Institut veröffentlichten Fallzahlen verwiesen, da diese nicht in Relation zur Anzahl der Tests dargestellt würden. Zudem seien die massenhaft verwendeten PCR-Corona-Tests nicht in der Lage, eine valide Aussage über die Anzahl von wirklich ausgebrochenen Corona-Krankheiten zu geben, bei denen die Person erkrankt und infektiös sei:

„Als Mikrobiologe und Molekularbiologe erscheint es mir wichtig, sachlich auf die Frage einzugehen, wie sicher denn der derzeit angewendete Corona-Test für den Nachweis einer Infektion mit SARS-COV 2 ist. Viele Menschen müssen hier ja auf Sachzusammenhänge vertrauen, die zum Teil nur Fachleuten zugänglich sind. […] Ein PCR-Test kann durch Abstriche diagnostisch nur den Verdacht auf eine Infektion darstellen, da er nur Teile eines Infektionserregers oder den Erreger an einem Ort wie etwa der Schleimhaut nachweist. Der Nachweis der bloßen Anwesenheit ist nicht ausreichend für die ’Tat’ : die Infektion von Epithelzellen des Atemtraktes. Und selbst bei ausgeführter ’Tat’ führt eine Infektion nicht zwangsläufig dazu, selbst als Individuum infektiös zu sein und auch nicht zwangsläufig zu einer Erkrankung des betroffenen Individuums.” –> INTERVIEW

Verschwörungstheorien

Ingar Solty hat einen sehr dichten und trotzdem sehr lesenswerten Beitrag über Verschwörungstheorien während Corona geschrieben, in dem er diese aus sozialpsychologischer und materialistischer Perspektive einordnet. Besonders gut fand ich dabei seinen Zugang, die Verschwörungstheorien auf ihren empirischen Gehalt zu befragen, der auch von ihm geteilt wird – also beispielhaft eine verschwörerische Bill Gates-Kritik mit einer linken Kritik am Einfluss von Bill Gates auf die globale Gesundheitspolitik abzugleichen.

Grundlage hierfür ist Soltys Definition von Verschwörungstheorien: “Bezüge zu Verschwörungstheorien erkennt man an wenigstens vier Elementen: 1. an der einfachen Personalisierung von gesellschaftlichen Verhältnissen (Gates, Soros, Rothschild), die oft antisemitische Untertöne und Botschaften vermittelt; 2. am manichäischen Denken – die Mainstream-Medien versus die Alternativmedien –, das keine Schattierungen erkennt, Faschisten, Liberale, Konservative, Sozialdemokraten, Kommunisten und Anarchisten nicht unterscheiden kann, die vereinzelten kritischen Stimmen in den Mainstream-Medien nicht wahrnimmt und auch zu den Richtungskämpfen in den bürgerlichen und linken Medien keine Einstellung hat; 3. daran, dass das Ergebnis der Diskussion für Vertreter*innen von Verschwörungstheorien von vornherein feststeht. Sie diskutieren nicht, um etwas hinzuzulernen, um eine andere Perspektive und andere Erfahrungen kennenzulernen, sondern als wüssten sie schon alles. Und schließlich erkennt man sie daran, dass sie sich 4. in der Regel mit Händen und Füßen gegen die Vorstellung wehren, man könne noch etwas ändern, schon gar nicht innerhalb des politischen Parteiensystems. Denn die Verschwörungstheorie, die individuell vor dem Computerbildschirm – anstatt in einer lokalen Parteiorganisation, Gewerkschaft, Antifagruppe etc. – erworben wurde, ist häufig auch eine Rechtfertigung für die eigene Inaktivität jenseits des ständigen Raunens und Rechthabens in den Kommentarfunktionen der sozialen Medien.” –> TEXT

Medien-Kiste #2

Defund the police

Maximilian Pichl hat bereits im August einen sehr interessanten Artikel über die “defund the police”-Debatte in den USA und ihre Rezeption in Deutschland geschrieben. Im Hinblick auf die aktuelle Polizeidebatte, rechte Chatgruppen und Rufe nach Rassismusstudien sehr lesenswert – genauso wie das Zitat von James Baldwin, das Pichl anführt: “„Ein Polizist ist ein Polizist. Und er könnte ein netter Mensch sein, aber ich habe keine Zeit das herauszufinden. Alles was ich weiß, er hat eine Uniform und eine Pistole. Das ist die einzige Weise, in der ich zu ihm in Beziehung stehe.“” –> TEXT

Linke Männlichkeit*

Das Y-Kollektiv hat unter dem Titel “Männlichkeit unter Beweis: Männer auf dem Weg zu sich selbst” einen 45-minütigen Dokumentarfilm über gegenwärtige Formen von Männlichkeit* gedreht, der neulich in der ARD lief. Ich habe bisher nur positives gehört…

Neues vom Rap

Die Berliner Rapperin Lena Stoehrfaktor hat einen neuen Track veröffentlicht: “Zuhause im Nebel (prod. von Tapete)”

Media-Kiste #1

HARTZ-IV

Zwar schon von 2018, aber gerade erst entdeckt: Kinder aus Hartz-IV-Familien berichten in einem Video über die permanenten Gängelungen durch die Jobcenter:

MORIA

Joko und Klaas haben gegen Pro7 gewonnen und ihren Gewinn, 15 Minuten Sendezeit, dem Geflüchteten-Lager in Moria gewidmet.

PATRIARCHAT

Carolin Wiedemann hat einen lesenswerten Text zum Stand des Patriachats geschrieben, indem sie formuliert, was Privilegien von Männern* heute bedeuten und wie diese von jenen Männern*, die sich als “feministische allies” verstehen, hinterfragt und abgebaut werden sollten: “Die eigenen Privilegien hinterfragen bedeutet auch, den eigenen Habitus zu reflektieren, darüber nachzudenken, wie laut und wie oft man die Stimme erhebt, wieviel Raum man zu nehmen gewohnt ist, in welchem Ton man spricht, gerade mit denen, die nicht als Männer gelten. Und auch: Die eigene Wahrnehmung, das eigene Empfinden, die Affekte und den Umgang damit herauszufordern. Den Körperpanzer aufzubrechen, nicht nur denen zuliebe, die im Patriarchat systematisch ausgebeutet und abgewertet werden, auch sich selbst zuliebe.” –> TEXT

Corona Update #9

Ausnahmezustand

Wolf Wetzel hat auf heise.de eine Halbjahresbilanz zu Covid-19 in zwei Teilen veröffentlicht.

Teil 1 behandelt die unterschiedlichen Konformismen, die sich in der Krise herausgebildet haben: “Die Demonstranten gegen zahlreiche Corona-Maßnahmen wollen den Kapitalismus zurück, den sie vor dem Lock-down hatten, mit dem sie sich arrangiert haben. […] Das mag man für einen recht bescheidenen Protest halten – aber man muss ihn deshalb nicht mit einer neonazistischen Demonstration gleichsetzen. Wenn man fair und hoffnungsvoll ist, dann kann man die “Querdenker” sowohl rechts- wie links-offen verorten. […] Denn dann wäre doch die Frage an die Gegendemonstranten zu richten: Verharrt ihr nicht auch in einem Status Quo, der die Entscheidung der Großen Koalition gegen die “Querdenker” verteidigt? Wenn der (verlorene) Spaß am Kapitalismus zu wenig ist – und dafür gibt es allerhand Gründe -, der müsste sich und anderen sagen, worum es dann gehen muss! Was wäre also eine tatsächliche Kapitalismus-Kritik, die die Corona-Zeiten berücksichtigt? Hat die parlamentarische, die außerparlamentarische Linke so etwas wie eine antikapitalistische Kritik, die man – in der Tat – auf den Querdenker-Demos meist nur in sehr homöopathischer Dosis wahrnehmen kann?” –> TEIL 1

Teil 2 behandelt historisch die Geschichte der sogenannten “Ausnahmezustände” in der BRD (u.a. Notstandsgesetzgebung, Rote Armee Fraktion und 11. September 2001) und zieht Querbezüge zu den Gegenmaßnahmen gegen Covid-19 –> TEIL 2 

Modellierungen

Gutes Interview mit dem Biologieprofessor Dirk Brockmann über die Probleme bei der Erklärung und Modellierung von Pandemieverläufen: “Tatsächlich haben wir in Deutschland ein völlig anderes Szenario als in anderen Ländern. Warum das so ist, ist ein großes Rätsel. Ich habe hierüber mit Modellierern weltweit gesprochen, also mit Wissenschaftlern, die anhand mathematischer Modelle Prognosen dazu erstellen, wie sich das Infektionsgeschehen entwickeln wird. Wir sind überrascht über Deutschland, aber wir haben derzeit keine Erklärung.” –> INTERVIEW

Pharmaindustrie

ARTE hat eine sehenswerte Doku über die Rolle der Pharmaindustrie und insbesondere deren Preis- und Forschungspolitik in seiner Mediathek. Am Ende wird der Einfluss der Pharmaindustrie auf die gegenwärtige Covid-19-Situation diskutiert:

SOFTWARELÖSUNGEN

Die Nichtregierungsorganisation “Algorithm Watch” hat einen europaweiten Vergleich der technischen Lösungen vorgenommen, die gegen die Verbreitung von Covid-19 eingesetzt werden und kommt dabei anhand unterschiedlicher Länderbeispiele zu einem skeptischen Schluss:

“Die polnische App “Kwarantanna domowa” nutzt Geolokalisierungs- und Gesichtserkennungstechnologie, um sicherzustellen, dass relevante Personen unter Quarantäne gestellt werden; das Herunterladen der App ist obligatorisch. Gesichtserkennungstechnologie wurde auch in Italien, in der Gemeinde Como, zur Durchsetzung sozialer Distanzierung eingesetzt, was der Stadt das Etikett “Big Brother Como” einbrachte. In Slowenien gelang es der Regierung, ein Anti-Coronavirus-Gesetzespaket zu verabschieden, das ihr nicht nur eine rechtliche Grundlage gibt, um in Zukunft die Annahme ihrer Anwendung zur Ermittlung von Kontaktpersonen zu verlangen, sondern auch Polizeibefugnisse erheblich ausweitet und damit künftige regierungskritische Proteste gefährdet. Länder wie Estland und das Vereinigte Königreich experimentieren mit “Immunitätspässen” als digitale “Bescheinigungen” zum Nachweis des Gesundheitszustands einer Person. Diese Automatic-Decision-Making-Systeme werden zwar als notwendige Instrumente für die “Rückkehr zur Normalität” angepriesen, aber wenn sie schlecht konzipiert und undurchsichtig eingesetzt werden, besteht die Gefahr, dass sie eine neue Normalität auf der Grundlage einer allgegenwärtigen Überwachung durchsetzen.” –> BERICHT 

Linke Kritik des Corona-Hygiene-Spektrums

zur aktuellen debatte um die samstag-hygiene-demo am 29.08.2020 in berlin: ich glaube, die gesellschaftspolitische linke kommt nicht darum rum, sich inhaltlich und aktiv mit den hygiene leuten auseinanderzusetzen.

es ist alles richtig: 1. rechtsradikale sind mitgelaufen, das wird toleriert – und zwar obwohl aus dem rechten spektrum vorher offen mobilisiert wurde, 2. ein teil der hygiene-leute ist offen antisemitisch, 3. die verschwörungstheorien sind oftmals strukturell antisemitisch, 4. ein teil der hygiene-demonstrant*innen ist hardcore-esoterisch und anti-aufklärerisch. soweit, so schlecht.

aber es gibt meiner wahrnehmung nach einen bürgerlich-soliden teil im corona-maßnahmen-kritik-spektrum, der thematisch viele schnittpunkte mit einer staatskritischen und anti-kapitalistischen linken position hat, jedoch die dinge aus einer fundamental unterschiedlichen perspektive betrachtet und darum auch zu sehr unterschiedlichen – aus meiner sicht fatalen – schlussfolgerungen und positionen kommt. dieser bürgerlich-solide teil ist aus meiner sicht das momentane legitimations-rückgrat der corona-hygiene bewegung.

zu den ähnlich behandelten themen zähle ich (a) kapitalismuskritik, (b) staatskritik, (c) medienkritik, (d) bürger- und grundrechte, (e) gesundheitspolitik, (f) corona als phänomen.

ich habe momentan leider selber kaum kapazitäten, dort in die tiefe zu gehen, aber ich würde mich mega freuen, wenn diese themen und deren behandlung aus dem bürgerlichen corona-spektrum aus einer linken-emanzipatorischen perspektive häufiger pointiert und scharf angegangen werden.

die obigen kritikachsen rechtsradikalismus / antisemitismus / esoterik sind natürlich weiterhin wichtig, aber sie gehen aus meiner sicht an dem gegenwärtigen drive der corona-hygiene-bewegung vorbei.

(foto: hygiene-demo stuttgart)

Corona Update #8

EINDÄMMUNG

Das Portal “Frag den Staat” hat die Veröffentlichung eines Strategiepapiers vom Bundes-Innenministerium erwirkt, das drei unterschiedliche Szenarien für den Umgang mit Covid-19 diskutiert: 1. den worst-case mit einer schnell durchschlagenden Infektion und eine hohen Zahl an C19-Toten, 2. die Dehnung der Infektion, 3. eine Mischung aus hohen Testzahlen und einer Isolierung von Risiko-Patient*innen –> STRATEGIEPAPIER

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Mai Thi Nguyen-Kim diskutiert die Zukunft des Corona-Lockdowns und kommt zu dem Ergebnis, dass dieser deutlich länger andauern wird, als momentan angenommen:

MEDIKAMENTE UND PATENTE

Medico International hat zusammen mit 144 anderen Organisationen gefordert, dass die Entwicklung eines Corona-Medikaments und einen -Impfstoffes global patentfrei erfolgen soll. Neben der Forderung, neue Patente auf C19-Medikamente nicht zu erteilen, bedeutet dies auch, dass jene Unternehmen, die über Patente auf bereits entwickelte Medikamente verfügen, ihre Patentrechte nicht geltend machen sollen –> FORDERUNGEN 

STREIKS

Die Initiative “Solidarisch gegen Corona” hat einen globalen Streik-Ticker eingerichtet, der über Arbeitskämpfe und -niederlegungen im Zuge der Corona-Krise berichtet. Hierbei handelt es sich grösstenteils um manuelle Berufe, unter anderem im Logistiksektor bei Amazon –> STREIKTICKER 

Corona Update #7

CORONA-APP 

Rainer Mühlhoff weist aus datenschutzrechtlicher Perspektive auf die schwerwiegenden Probleme hin, die mit der Einführung einer “Corona-App” verbunden sind: “Corona provoziert aktuell eine Reihe politischer Tabubrüche, die wahrscheinlich dazu führen, dass das Virus die Gesellschaft dauerhaft transformiert. Ohne gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirksamkeit der Handydatenerfassung zur Eindämmung des Virus wäre mit der Bereitstellung dieser Daten eine Aufweichung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung verbunden, für die selten zuvor so leicht eine Mehrheit zu erlangen war. Und ohne eine umfassende datenschutzpolitische Begleitung und Regulierung kann die flächendeckende Erfassung von Verhaltensdaten besonders schützenswürdiger Bevölkerungsgruppen (dazu zählen die Daten über das Lernverhalten von Heranwachsenden) ein irreversibles Datenleck produzieren.” –> ARTIKEL

DISKRIMINIERUNG

DIE NGO “Ability Watch” hat die Aufstellung eines Katalogs durch die medizinischen Fachgesellschaften kritisiert, nach dem die Zuteilung medizinischer Ressourcen im Falle einer Überlastung des Gesundheitssystems geschehen soll. Dieser sei hochgradig diskriminierend: “Im Ergebnis bedeutet dies, dass grundsätzlich und pauschal alle Menschen gewissen Alters und Behinderung – unabhängig von der patientenindividuellen Erfolgsaussicht von Behandlungen – negativ bewertet werden und so im Zweifel keine Behandlung erfahren.” –> OFFENER BRIEF

EINDÄMMUNG

Floris Biskamp hat einen sehr lesenswerten Artikel über die tiefgehenden Probleme geschrieben, die sich aus einem Eindämmungs-Szenario ergeben, in dem Risikogruppen isoliert und der Rest der Bevölkerung immunisiert werden sollen –> ARTIKEL 

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Der Virologe Hendrick Streeck hat bei “Lanz” die Ergebnisse seiner neuen Corona-Forschungen publik gemacht und auf dieser Grundlage eine neue Exit-Strategie formuliert, die in Teilen die Strategie des Robert-Koch-Instituts in Frage stellt:

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Das Medizin-Kollektiv “Reiche 121” aus Berlin hat eine Übersicht von epidemologischen Quellen erstellt, die ihres Erachtens eine seriöse Gegenmeinung zur vom Robert-Koch-Institut erstellten und von der Bundesregierung umgesetzten Einschätzung der Corona-Lage darstellen. Ein besonderer Schwerpunkt ist die Interpretation der Corona-Pandemie in Italien, die bis heute als katastrophisches Negativbild für die deutsche Corona-Politik fungiert. Daneben wird die fehlende empirische Evidenz über Covid-19 betont: “hier geht es nicht nur um die Ungewissheit zum Verlauf der Pandemie, sondern auch um die Ungewissheit bezüglich der Wirkung und Nebenwirkung der erforderlichen Maßnahmen.”  –> ÜBERSICHT   

GRUNDRECHTE

Das ARD-Magazin “Monitor” kritisiert die Eingriffstiefe und die unterschiedliche Interpretation der Kontaktsperren, insbesondere das in vielen Bundesländern verbotene Sitzen auf Parkbänken:

INFEKTIONSSCHUTZGESETZ

Stephan Andreas-Casdorff argumentiert aus juristischer Perspektive, dass das Infektionsschutzgesetz ohne ausreichende rechtliche Grundlage erlassen wurde, und im Kern eine unzulässige “Ermächtigung” der Landesregierungen darstelle –> ARTIKEL

INTERDISZIPLINÄRER KRISENSTAB

Heribert Prantl kritisiert die einseitig epidemologische Debatte und fordert einen interdisziplinären Krisenstab, der den Ausstieg aus dem Lockdown vorbereiten soll: “Eine demokratische Gesellschaft darf nicht nur auf Epidemiologen hören. Die Bundeskanzlerin muss eilig einen großen Krisenstab einrichten, in dem nicht nur Virologen und Gesundheitsexperten, sondern auch Grundrechts- und Gesellschaftsexperten sitzen – Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Expertinnen und Experten aus allen Bereichen der Gesellschaft. Sie sollen, sie müssen die Lage umfassend analysieren und den Ausstieg aus dem Lockdown vorbereiten.” –> ARTIKEL

Corona Update #6

CORONA-EINDÄMMUNG

Momentan kursieren parallel zu den in Deutschland beschlossenen Eindämmungsmaßnahmen eine Reihe öffentlicher Stellungnahmen, die Sinn und Zweck der Maßnahmen und eine zukünftige Strategie im Umgang mit C19 diskutieren. Da diese Stellungnahmen momentan nicht abschliessend bewertet werden können, versuche ich jene aufzulisten, die mir momentan am diskutabelsten erscheinen. Ich diskutiere dabei explizit nicht die politischen Implikationen, z.B. von verschärften Grenzkontrollen. Dieses müsste in einem zweiten Schritt passieren.

(1) Die gegenwärtigen Eindämmungsmaßnahmen werden vom staatlichen Robert-Koch-Institut (RKI) angeleitet. Dieses versucht durch kombinierte Maßnahmen von “sozialer Distanzierung”, dem Schutz von Risikogruppen und der Absonderung von C19-Erkrankten ein zu starkes Ansteigen der C19-Infektionskurve zu verhindern. –> STRATEGIE DES RKI

(2) Der Mikrobiologe und Viruloge Alexander Kekulé (–> BIOGRAPHIE) spricht sich in seinem Beitrag für eine schrittweise Aufhebung der Kontaktsperre und neue mittelfristig anzuwendene Umgangsregeln aus, die eine rasche Ausbreitung von C19 verhindern sollen: “Wie können wir die Epidemie kontrollieren, ohne den Lockdown zum Dauerzustand zu machen? Der folgende Vorschlag besteht aus drei Elementen: 1. Smart Distancing; 2. Individuelle Vigilanz; 3. Deeskalierende Grenzkontrollen” –> ARTIKEL

(3) Auf facebook hat der Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin (–> BIOGRAPHIE) die aktuelle Vorgehensweise der Bundesregierung als nicht zielführend kritisiert, da sie zu viele Opfer mit sich brächte. Statt dessen spricht er sich für eine Strategie des “cocooning” (Schutz der besonders gefährdeten Bevölkerungsteile) in Verbindung mit Massentests aus.

Ich möchte hier einige Thesen zur Coronakrise zur Diskussion stellen. Kommentare sind willkommen. Polemik nicht. Die…

Gepostet von Julian Nida-Rümelin am Freitag, 27. März 2020

Corona Update #5

CORONA-ANGST

Viele Leute ergreift derzeit eine Angst vor einer Corona-Infektion, viele anderen verarbeiten immer noch den Kontrollverlust einer sich ausbreitenden Pandemie. In dem Psychologie-Podcast “Quarantäne-Cast: Meine Psyche, Corona und ich” werden psychologische Fragen rum um die gegenwärtige Pandemie behandelt. Hier die Folge zu “Was tun gegen die Corona-Angst?” –> LINK — eine Übersicht über alle Folgen hier –> LINK

CORONA-BEHANDLUNG

Momentan gibt es viele Berechnungen darüber, wann die jeweiligen nationalstaatlichen Gesundheitssysteme angesichts der C19-Pandemie an ihre Kapazitätsgrenzen kommen können. Auslöser hierfür ist die Überlastung des Krankenhaus- und Pflegesektors in Norditalien, was zu einem drastischen Ansteigen der Opferzahlen geführt hat. Hierzu wurde nun eine Karte veröffentlicht, die europaweit die Versorgungsmöglichkeit älterer Menschen, die auf Grund körperlicher Verfassung und Vorerkrankungen besonders durch eine C19-Infektion gefährdet sind, durch die jeweiligen Gesundheitssysteme benennt. Indikator sind hier die Anzahl älterer Menschen pro Krankenhausbett. Hier zeigen sich bereits europaweit massive Unterschiede.

CORONA-FORSCHUNG

Die wissenschaftliche Untersuchung von C19 und die Suche nach einem Impfstoff sind in das gegenwärtige Wissenschaftssystem eingebettet. Insbesondere an der Drittmittelorientierung gibt es immer wieder Kritik, da diese der Forschung eigene Leitlinien auferlegt, die nicht der sinnvollsten Forschung entsprechen und diese verzögern. Christian Drosten, der durch seinen täglichen Corona-Podcast bundesweit bekannt geworden ist (ÜBERSICHT ÜBER PODCAST-FOLGEN), äußerte sich dazu in einem der letzten Podcasts:

Korinna Hennig: Das ist ja ohnehin ein großes Problem im wissenschaftlichen Arbeiten, dass man sagt, auch diese Drittmitteleinwerbung ist immer wichtiger geworden und frisst einen immer größeren Teil der Forscher in ihrer tatsächlichen alltäglichen Arbeit.

Christian Drosten: Wir sehen in der jetzigen Wissenschaftstätigkeit an der Epidemie, dass das Einwerben von Drittmitteln in seinem zeitlichen Umfang nicht mehr zu schaffen ist. Wir brauchen da unbedingt andere Mechanismen, wie wir direkt Geld dahin steuern können, wo es auch wirklich gebraucht wird, wo es wirklich eingesetzt werden kann. Und wo nicht denjenigen, die die Patienten behandeln und beforschen, die Zeit gestohlen wird.” –> PODCAST 23

CORONA-ENTWICKLUNG

In einer Reihe von Beiträgen zu C19 wird weiterhin die These vertreten, dass es sich bei C19 um eine “übliche Grippewelle” handelt. Dass dieses zumindest für New York City nicht stimmt, zeigt anschaulich diese Grafik:

KINDERSCHUTZ

100 Wissenschaftler*innen fordern in einer gemeinsamen Erklärung einen Krisenstab zur mehr Kinderschutz in der Corona-Krise. Im Interview erläutert Maud Zitelmann den Grund für die gemeinsame Erklärung: “Wir wissen, dass viele Kinder und Jugendliche durch die derzeitigen Kontaktsperren massiv gefährdet sind. Häusliche Isolation ist für Heranwachsende, denen in den Familien Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch droht, eine Katastrophe. Für manche ist das lebensgefährlich. Gerade jetzt müssten Kinderschutz und Jugendhilfen ausgebaut werden. Wir erleben seit Tagen aber genau das Gegenteil. Hilfen werden zurückgefahren, Verbindungen gekappt, die gefährdeten Kinder geraten aus dem Sichtfeld.” –> INTERVIEW 

MIETENPOLITIK

In Berlin hat eine Gruppe von Besetzer*innen angefangen, leerstehende Wohnungen zu besetzen und diese an Obdachlose zu übergeben, da diese in der Corona-Krise schutzlos seien: “Die AktivistInnen öffnen die Wohnungen, um sie an Obdachlose weiterzugeben. „Die Coronakrise zeigt nochmals viel deutlicher die Verletzlichkeit von Obdachlosen und Menschen in Lagern.“ Diese hätten „keine Privatsphäre, keine Hygiene, keinen Schutz“, sagt der Besetzer, der sich Kim Schmitz nennt, zu ihrer Motivation. Für mehrere Wohnungen stünden Obdachlose bereit. Sie würden von den AktivistInnen umfassend unterstützt, auch mit Anwälten und dem Versprechen Geldstrafen zu übernehmen, falls die Aktion auffliegt.” –> ARTIKEL

SICHERHEITSPOLITIK

Thomas Gebauer von medico international warnt vor der Überhöhung eines Sicherheitsbegriffs, der oft nur eigene Interessensgebiete und Privilegien verteidigt, und so universelle Menschenrechte außer Kraft setze:

“Wer sich nicht der Logik des Ausnahmezustandes ergeben will, muss für die Idee einer offenen Gemeinschaft freier Menschen streiten. Dazu bedarf es nicht zuletzt eines kritischen Verständnisses von Recht und Sicherheit. Gerade in Krisenzeiten, wenn das Bemühen um Sicherheit Hochkonjunktur hat, ist das vonnöten. Wer wäre in unsicheren Zeiten nicht für Sicherheit? Die Sache aber ist komplizierter. Bei aller Verführung, die im politischen Streben nach Sicherheit liegt, bleibt unklar, was unter Sicherheit verstanden wird, wer Sicherheit definiert und für wen sie geschaffen werden soll. […]
Wer von Sicherheit spricht, hat zuallererst die eigene Sicherheit im Blick – eine Sicherheit, die an bestimmte Territorien oder Privilegien gebunden ist. Für das Prinzip der Universalität, auf das sich die Menschenrechte gründen, gibt es in sicherheitspolitischen Überlegungen keinen Platz. Drängen Menschenrechte auf den Einschluss aller, kommt Sicherheit mit Abschottung aus. Mit Sondermaschine werden in diesen Tagen 100.000 Tourist*innen aus fernen Urlaubsgebieten zurückgeflogen, aber ein paar tausend schutzsuchenden Flüchtlingen die Aufnahme verweigert.” –> ARTIKEL