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Corona-Update #13: Ausgangssperren

Aerosolforscher*innen gegen Ausgangssperren

“Wir müssen uns deshalb um die Orte kümmern, wo die mit Abstand allermeisten Infektionen passieren – und nicht unsere begrenzten Ressourcen auf die wenigen Promille der Ansteckungen im Freien verschwenden”

Die führenden Aerosolforscher*innen in Deutschland haben einen offenen Brief an die Bundesregierung geschrieben, in dem sie sich vehement gegen die vorgesehenen Ausgangssperren im neuen Bundesgesetz und den damit verbundenen Fokus auf Infektionen in Außenräumen werden. Dies Ausgangssperren führen fatalerweise die Strategie “irreführender” Kommunikation fort:

“Wir teilen das Ziel einer Reduzierung problematischer Kontakte in Innenräumen, aber die Ausgangssperren versprechen mehr als sie halten können. […] Wenn wir die Pandemie in den Griff bekommen wollen, müssen wir die Menschen sensibilisieren, dass
DRINNEN die Gefahr lauert. In den Wohnungen, in den Büros, in den Klassenräumen, in Wohnanlagen und in Betreuungseinrichtungen müssen Maßnahmen ergriffen werden. Die andauernden Debatten über das Flanieren auf Flusspromenaden, den Aufenthalt in Biergärten, das Joggen oder das Radfahren haben sich längst als kontraproduktiv erwiesen. Wenn unseren Bürgerinnen und Bürgern alle Formen zwischenmenschlicher Kontakte als gefährlich vermittelt werden, verstärken wir paradoxerweise die überall erkennbare Pandemiemüdigkeit. Nichts stumpft uns Menschen bekanntlich mehr ab als ein permanenter Alarmzustand.” (LINK ZUM OFFENEN BRIEF)

Beispiel Frankreich – Beispiel Toulouse

In Frankreich existieren bereits seit Oktober 2020 Ausgangssperren, bis vor kurzem bereits ab 18h jeden Tags, nun ab 19h. Die Effekte sind laut einem ZEIT-Artikel unklar, in der Hälfte der Städte stieg die Inzidenz an, in der anderen Hälfte sank sie.

In Toulouse verfolgte eine Forscher*innen-Gruppe die Entwicklung sehr genau, und kam zu dem Schluss, dass eine Ausgangssperre dort das Infektionsrisiko stark erhöht habe: “Wahrscheinlich hat sie in Toulouse nicht funktioniert, weil die Menschen innerhalb kürzerer Zeit dasselbe machen – also etwa alle früher einkaufen. Das führt zu Menschenansammlungen.”. Zu selbigem Schluss käme ein Artikel im Magazin Science: “Ausgangssperren, steht dort, ‘erhöhen das Übertragungs-Risiko in Haushalten und Familien'” (LINK ZUM ARTIKEL)

Empirische Datenlage für Ausgangssperre

Der Journalist Patrick Gensing hat beim Bundesgesundheitsministerium nachgefragt, welche Datenerhebungen für eine Ausgangssperre sprechen und seine Recherche in einem Twitter-Thread verarbeitet. Im Kern geht es dabei um zwei im Gesetzesentwurf zitierte  wissenschaftliche Studien – eine mit Bezug auf Frankreich und eine andere zu Ausgangssperren in anderen europäischen Staaten als Deutschland. Bei beiden Papers korrelieren die Ausgangssperren jedoch so stark mit anderen Maßnahmen wie der Schließungen von Bars und den Schulferien, dass Gensing diese als solide Grundlage für zu gering einschätzt (TWITTER-THREAD)

GRUNDRECHTEKOMMITEE GEGEN AUSGANGSSPERRE

Das Kommitee für Grundrechte und Demokratie hat sich einer Pressemitteilung ebenfalls gegen Ausgangssperren ausgesprochen und allen Betroffenen den Rechtsweg dagegen empfohlen: “Ausgangssperren stellen einen weiteren Schritt in der schon jetzt umfänglichen Reglementierung des Privatlebens dar, während diverse Bereiche der Wirtschaft, insbesondere Großbetriebe, weiterhin vielfach von pandemiebedingten Vorschriften unbehelligt bleiben.

Ausgangssperren schränken darüber hinaus nicht nur die Bewegungsfreiheit aller ein, sie bringen vor allem marginalisierte und vulnerable Gruppen in Gefahr. Denn Ausgangssperren dienen insbesondere der Vereinfachung der Kontrolle von Individuen im öffentlichen Raum. Derartige Kontrollen richten sich erfahrungsgemäß weniger gegen eine wohlhabende Mehrheitsgesellschaft, sondern überproportional gegen Jugendliche und Zugehörige marginalisierter Gruppen, wie etwa von Rassismus betroffene Menschen, Wohnungslose oder Menschen in ärmeren Stadtteilen.” (PRESSEMITTEILUNG)

Corona-Update #12

Aufruf zur Aufhebung von Patenten

Super gesundheitspolitischer Aufruf mit dem Titel “patents kill” zur Freigabe von Patenten auf Impfstoffe, Medikamente und andere medizinische Güter, u.a. initiiert von medico international und der buko-pharma-kampagne:

“[Die] Geschichte jeder Epidemie ist auch eine Geschichte des Zusammenspiels von Wissen, Macht und Politik. So verharmlosen einige Regierungen die Gefahr durch das Virus und gefährden damit Tausende Menschenleben. Andere versuchen sich Masken, Diagnostika oder in Entwicklung befindliche Impfstoffe exklusiv zu sichern. Und die Pharmaindustrie stellt ihre Gewinninteressen ins Zentrum. Zugleich bauen philantrokapitalistische Akteure ihren Einfluss aus – zulasten demokratischer Prinzipien und Normen. Von globaler Solidarität in der Pandemie kann an dieser Stelle nicht die Rede sein.”
“Wir, die Unterzeichnenden, fordern daher von unseren Regierungen eine an den Gesundheitsbedürfnissen der Menschen ausgerichtete Politik, die Arzneimittel als globale öffentliche Güter behandelt und die Macht von Pharmaunternehmen im öffentlichen Interesse begrenzt. […] Die Vorschläge dafür liegen seit Jahren auf dem Tisch. Den Rahmen für diesen grundlegenden Politikwechsel böte die sofortige Einführung eines durch die Weltgesundheitsorganisation zu verhandelnden internationalen Vertrages, in dem sich Regierungen zur verpflichtenden, koordinierten Forschung und Entwicklung für neue unentbehrliche Medikamente, Diagnostika und Impfstoffe bekennen.” [LINK ZUM AUFRUF]

Corona-Bekämpfung: die neue Öffnungsstrategie und das Stufenmodell

Wie seht Ihr die neuen Corona-Öffnungen?

Ich merke, dass mir diese schwer im Magen liegen, vor allem angesichts der gesundheitlichen Risiken, denen nun viele Leute ausgesetzt werden. Sei es als Risikopatient*innen, als Arbeitende oder schlicht als sich Bewegende im gesellschaftlichen Alltag.

Die Veränderung der GroKo-Politik ist aus meiner Sicht massiv. Lange hatte ein Absenken der Infektionszahlen die höchste Priorität – was ich in der konkreten Ausgestaltung oft kritikwürdig fand, aber als allgemeines Ziel befürwortet habe. Nun heisst es “zurück zur Normalität”, was auch immer das konkret inhaltlich bedeutet und was es gesundheitspolitisch kostet. Das geht eigentlich nicht, werden die Aussagen der Virologen und Epidemologen zu den neuen Mutationen zu Grunde gelegt und stellt aus meiner Sicht einen krassen Dammbruch dar.

Das Stufenmodell ist zudem in sich willkürlich und unpraktikabel (u.a. weil viele Branchen nicht so kurzfristig funktionieren können), und bedeutet de-facto ein weiteres Jahr (bis zum Ende der Impfungen) komplette Unsicherheit. Sollten die Infektionszahlen deutlich unter einer 100er Inzidenz bleiben, hält es sich alles noch in Grenzen – bei unter 50 könnte es sogar eine Entspannung geben, aber sollte sich der Wert – wie zuletzt prognostiziert – durch die Virusmutationen zwischen 80 und 120 einpendeln, dann werden wir ein Auf-und-Zu erleben, was für viele sehr schwer zu ertragen sein wird. Dieses Gefühl, in einem “Experiment” zu leben, wird sich stark potenzieren.

Hinzu kommt nun die neue “Selbstverantwortlichkeit” mit den Selbsttests. Diese bringt natürlich für die Einzelnen mehr Klarheit, und kann auch bestimmte gesellschaftliche Räume corona-sicherer machen – sie widerspricht aber in ihrem Modell der “individuellen Selbststeuerung” dem Stufenplan als allgemeinem staatlichen Rahmen, der über den getesteten Leuten steht. Hier sehe ich erhebliches Frustpotential (“Ich teste mich die ganze Zeit, trotzdem hat alles zu”). Hinzu kommt der Punkt, dass nun individuelle gesundheitspolitische Sicherheit “kaufbar” wird (25 Euro für 5 Schnelltests) und dieses Leute mit geringen Einkommen massiv benachteiligt. Es werden sich garnicht alle testen lassen können.

Natürlich habe ich die Hoffnung, dass der neue Öffnungsversuch ohne ein Anstieg der Infektionszahlen funktioniert. Warum auch immer: wegen der Tests, weil die Infektiösität im Sommer zurückgeht, weil die Mutationen sich irgendwie totlaufen. Trotzdem denke ich, dass es im Rahmen der am Mittwoch beschlossenen Vorgaben sowohl gesundheits- als auch sozialpolitisch wenig Grund zum Optimismus gibt – denn der Übergang von der Pandemiebekämpfung durch Eindämmung zu einer Strategie des Testens, stufenweise Öffnen und Schließens und langsamen Impfens bedeutet de-facto die Gefahr einer erhöhten Infektionsrate mit Toten und Erkrankten und eine starke Prekarisierung des gesellschaftlichen Alltags jener Leute, die nicht über die finanziellen Mittel verfügen, sich abzusichern.

Zum Thema: Verarschungs-Theorie

Ich bekomme in den letzten Woche in persönlichen Gesprächen oder auf social media immer wieder mit, dass Leute unmittelbar äußern, dass sie sich von der Corona-Politik und der Bundesregierung/GroKo “verarscht fühlen”. Typische Äußerungen: “ich fühle mich verarscht” oder “wir werden doch alle verarscht”. Seit den gestrigen, hanebüchenen Beschlüssen der GroKo nochmal deutlich mehr.

Ich finde es angesichts der doch komplexen Corona-Lage garnicht so einfach, dort etwas zu zu sagen. Ich finde es aber wichtig, die Verarschungstheorie von der Verschwörungstheorie zu trennen, auch wenn es dort punktuelle Überschneidungen gibt, gerade wenn “verarscht” als “hinters Licht geführt” gedeutet wird, weil dann dort wie bei der Verschwörungstheorie eine heimliche Handlungsintension, ein im Hintergrund steuerndes personelles Netzwerk oder ein Masterplan angenommen wird. Insgesamt ist dieses “heimliche” oder “geniale” Moment jedoch meiner Beobachtung nach über die Pandemie betrachtet zurückgegangen, die Diskurse über Bill Gates, die Pharma-Lobby sind nicht mehr so stark.

In den Mittelpunkt rückt nun das Verhältnis zwischen der Bundesregierung und den Bürger*innen und die Erwartbarkeit und Nachvollziehbarkeit staatlicher Herrschaft und Beschlusspolitik. Die Verarschungstheorie unterstellt da meiner Wahrnehmung nach der Bundesregierung u.a. eine “Lust an der Verwirrung”, eine “Lust daran, der Einzelnen und der Bevölkerung ihre untergeordnete bzw. irrelevante Position spüren zu lassen”, eine “Lust daran, der Bevölkerung das gute Leben zu versagen” u.v.m..

Im Zentrum steht zwar damit die aus meiner Sicht zu Recht beklagte Inkohärenz der gegenwärtigen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Diese wird jedoch ihrerseits wiederum als “Lust der Regierung” ausgedeutet – mit dem Effekt, dass die Regierten als “verarschte Lämmer” zurückbleiben.

Ich denke, dass eine emanzipatorische Perspektive hier dringend weiterarbeiten müsste, um der Verarschungs-Theorie das Wasser abzugraben. HIerzu zählt für mich:

(1) eine alternative Analyse dazu anzubieten, warum die momentane staatliche Politik so inkohärent ist. Aus der Perspektive der materialistischen Staatstheorie würde es vor allem bedeuten, nachzuzeichen, wie sich momentan unterschiedliche Kräfte mit ihren sich oft widersprechenden, politischen Forderungen im Staat und dessen Beschlüssen verdichten.

(2) Ohnmacht sehen: die Verarschungstheorie konzipiert wie die Verschwörungstheorie die politischen Subjekte als ohnmächtige Objekte “der Herrschenden”. Während die Verschwörungstheorie als emotionale Entlastung die detektivische Arbeit bei der Aufdeckung der Verschwörung anbietet, lenkt die Verarschungstheorie sehr viel Richtung Wut, die aber bei den “öhnmächtig Verarschten” bleibt. Diese Wut wird sich aus meiner Sicht weiter steigern, wenn die staatliche Corona-Politik so inkohärent bleibt, wie gestern mit den neuen Beschlüssen vorgeführt.

(3) Ohnmacht transformieren: aus meiner Sicht ist es absehbar, dass diese Wut sich irgendwann offener zeigen wird. Dabei ist keinesfalls gesagt, dass dieses in emanzipatorischer Absicht sein wird: die Wut kann sich gegen sozial Schwächere oder als “anders” Gelesene richten; sie kann in Aktionen wie der Kapitolstürmung in den USA münden; sie kann in der fetischhaften Anrufung der Regierung münden, “kohärenter zu sein”, ohne jedoch die jeweiligen auf den Staat einwirkenden Interessenskonstellationen, das Eigeninteresse staatlicher Akteure und die Eigendynamik der Pandemie zu berücksichtigen. Alles aus undogmatisch linker Perspektive nicht begrüssenswert – daher muss es aus meiner Sicht darum gehen, die bestehende Ohnmacht in emanzipatorisches politisches Handeln zu transformieren.

Dies bedeutet aus meiner Sicht, (a) die Ohnmachtserfahrung anzuerkennen als Effekt gegenwärtiger inkohärenter Corona-Politik; (b) die Deutung als “Verarschung” abzulehnen und stattdessen die jeweiligen Corona-Beschlüsse als Effekte komplexer sozialer Prozesse, sich widersprechender Interessenslagen, gesellschaftlicher Widersprüche und Herrschaftsverhältnisse zu erklären. Soll heissen: die beklagte “Inkohärenz” muss in komplexe Herrschaftskonstellationen übersetzt, die in Verarschungstheorien kritisierte “Lust der Regierung an der eigenen (unbegrenzten) Machtausübung” relativiert und kontextualisiert, und die “massive Beherrschtseinserfahrung” in einen basisdemokratischen, anti-autoritären Impuls übersetzt werden: den Formen und Inhalten der gegenwärtigen Corona-Politik kann politisch widerständig begegnet werden.

Hierzu gehört (c) auch, das staatliche Regierungsverhältnis aus basisdemokratischer Perspektive zu kritisieren: also nicht nur die staatliche Verteidigung kapitalistischer Interessen abzulehnen, die unkommentierte Verlagerung von Care-Arbeit in den privaten Bereich und damit zu Lasten von Frauen*, den rassistischen Ausschluss von Geflüchteten, sondern auch die gegenwärtige stark exekutivlastige Form der sehr kurzfristigen Entscheidungsfindung quasi ohne gesellschaftliche Mitbestimmungsmöglichkeiten, über 2-wöchentliche Verordnungen. Also in einem sehr stark top-down-strukturierten Prozess.

(d) Ziel muss es daher final sein: Ohnmacht praktisch überwinden und konstruktive Handlungsmöglichkeiten “von unten” sowohl gegen die Regierungspolitik als auch die gesellschaftlichen Umstände / Akteure aufzuzeigen, die dafür sorgen, dass bestimmte Bedürfnisse in der Bevölkerung nicht beachtet werden, dass keine eindeutigen Prioritäten durchgehalten werden – und diese Umstände selbst zum Gegenstand politischer Debatte und Veränderung machen. “Verarschung” cannot be the answer.

Medien-Kiste #3

Corona-Impfungen in Gefängnissen

Das Kommittee für Grundrechte und Demokratie unterstützt den Aufruf der Gefangenen-Gewerkschaft / Bundesweite Organisation (GG/BO), die Insassen von Gefängnissen bei der Corona-Impfung zu bevorzugen, da diese ähnlich wie die Bewohner*innen von Pflegeheimen auf engstem Raum leben, sich in Umfeldern mit höhereren Inzidenzien aufhalten und häufiger Vorerkrankungen aufweisen –> AUFRUF 

Rechter Terror in Berlin-Neukölln

Linke Aktivist*innen haben die 531 rechten Straftaten in Berlin-Neukölln seit 2016 in einer interaktiven Karte zusammengefasst, die die jeweiligen Orte und Delikte zusammenfasst –> KARTE

 

Corona-Update #11

GRAPHISCHE DARSTELLUNG DER PANDEMIEENTWICKLUNG

Viele tabellarische und graphische Übersichten über das Infektionsgeschehen sind kaum zu verstehen, weil Infektionszahlen, Inzidenzwerte und Infektionsgeschwindigkeiten sehr unverständlich und uneingeordnet durcheinandergehen. Eine relativ gute graphische Übersicht liefert jedoch tagesschau.de mit 6 unterschiedlichen Karten für das Infektionsgeschehen in Deutschland: a) die Anzahl der Neuinfektionen in Deutschland in den letzten 7 Tagen nach Landkreisen, b) die 7-Tage-Inzidenz bundesweit und nach (interaktiv einstellbaren) Bundesländern (sehr hilfreich), c) absolute Anzahl der Infektionen nach Bundesländern, d) relative Zahl der Infektionen nach der jeweiligen Bevölkerungszahl der Bundesländer, e) Tabelle über sämtliche relative und absolute Infektionszahlen nach Bundesländern und f) die bundesweite Entwicklung der Todesfälle durch und mit Covid-19. –> GRAPHISCHE ÜBERSICHT 

MUTATIONEN DES VIRUS

Mittlerweile sind zwei neue Mutationen des Corona-Viruses auch in Deutschland nachgewiesen worden. Während über die zuerst in Südafrika nachgewiesene Variante bisher sehr wenig bekannt ist, ist die in Großbrittanien zuerst nachgewiesene Mutation ca. a) 50% ansteckender als der bisher bekannte Virus, jedoch b) bei einer gleichbleibenden Sterblichkeitswahrscheinlichkeit.  Dies hat zur Folge, dass die zweite Mutation bei einer erfolgten Infektion gleich bedrohlich bleibt – die Wahrscheinlichkeit sich zu infizieren, erhöht sich jedoch laut tagesschau.de erheblich: “Das heißt, dass ein Infizierter im Schnitt mehr Menschen ansteckt als bisher – je nach Untersuchung um etwa 50 bis 70 Prozent. Dies mag auf den ersten Blick nicht sonderlich dramatisch klingen, aufgrund des exponentiellen Wachstums droht jedoch in kürzester Zeit eine völlig neue Dimension der Ausbreitung” –> ARTIKEL

PREKÄRES WISSEN ÜBER DIE PANDEMIEENTWICKLUNG

Warum sind die Infektionszahlen nach 2 Monaten Lockdown immer noch vergleichsweise hoch? tagesschau.de berichtet, dass die Datenlage eigentlich weiterhin zu dünn für eine fundierte Antwort ist: “Gehen die Einschränkungen nicht weit genug oder halten sich zu viele Menschen nicht an die Regeln? Wo genau stecken sich die Betroffenen an? Die Suche nach Antworten gleicht Stochern im Nebel. Für fundierte Aussagen fehlen schlicht Daten. In vielen Fällen wisse man nicht, wo Infizierte sich angesteckt haben, sagte Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen der Deutschen Presse-Agentur.” –> ARTIKEL

VERLAUF DER PANDEMIE

Der Artikel liefert dennoch eine gute Zusammenfassung des wenigen empirischen Wissens über den konkreten Covid-19-Verlauf in der Bevölkerung: es gäbe keine Explosionsherde, sondern eine stetige dezentrale Durchseuchung der Bevölkerung.  Und es gebe Grund zu der Annahme, dass eine sofortige Anordnung, und kein Bitten an die Unternehmen zum Homeoffice die Lage erheblich verbessern könnte (!).
Schließlich: nach der erhitzten Debatte um die Lockerungen während Weihnachten und Silvester wirds keine Erkenntnis darüber geben, ob die Lockerungen irgendwelche negativen Auswirkungen hatten, weil rund um die Feiertage zu wenig Daten erhoben wurden. Chapeau, ein demokratischer Pandemie-Diskurs geht anders. –> ARTIKEL

November Lockdown

für alle, die es bisher nicht sehen konnten: hier die 50 minütige pressekonferenz von merkel, söder und müller von gestern zum lockdown. irgendwie eine grundsteinlegung für die kommende zeit.

um es vorab zu sagen: ich kann persönlich und allgemeinpolitisch mit dem lockdown leben.

aber der “solidaritäts-diskurs”, der gerade von neoliberaler und neokonservativer seite als deutungsrahmen der “zweiten welle” eröffnet wird, warum es den lockdown geben sollte, ist aus meiner sicht nur zynisch und ein hegemonialer frontalangriff auf eine linke kritik der gegenwärtigen bundesdeutschen politik.

hierzu zähle ich:

leugnung der negativen effekte neoliberaler sparpolitik in den bereichen gesundheit und bildung, die erst die grundlage für “zu wenig krankenhausbetten” und “probleme bei der beschulung” darstellen

– dadurch zusätzliche abwälzung von care- und sozialer arbeit auf lehrer*innen / kita-erzieher*innen / pflegende, und das OHNE entsprechende ausstattung der arbeitsstätten, schutzmaßnahmen oder gar zusätzliches entgeld

instrumentalisierung von linken bewegungsdiskursen, um legitimität für den lockdown zu schaffen, obwohl es insbesondere die neokonservativen seit jahrzehnten einen scheissdreck interessiert, wie es zum beispiel “verprügelten frauen und kindern” geht. die kräfte, die dieses jetzt zum anlass für das aufrechterhalten von schule und kita nehmen, damit keine häusliche gewalt stattfinden, sind die gleichen kräfte, die die programme der frauenhäuser und -notrufe und der jugendhilfe über jahre gestrichen und permanent in frage gestellt haben. kiss my ass.

– in diesem sinn auch: eine instrumentalisierung einer durch covid ausgelösten “sozialen krise”. wenn ich spd-müller reden höre, denke ich wirklich, es hätte den sozialdemokratischen neoliberalismus und hartz iv nie gegeben. für einen relevanten teil der bevölkerung ist die “soziale krise” doch staatlich und besonders von der spd unter rot-grün bereits verordneter alltag – und zwar seit jahren. armut, hunger, schlechte gesundheit, keine kulturelle teilhabe. dass sich jetzt ausgerechnet die spd hinsetzt, und die sozialen belange vertreten will, ist nur noch hohn gegenüber jenen, auf deren rücken sich die spd profiliert hat und dieses nun wieder versucht.

– die instrumentalisierung des solidaritätsgedankens: ist bereits oben fast alles zu gesagt, remember: spaltung der gesellschaft in arm und reich, klassenkampf von oben durch gängelung und stimatisierung von armen usw.. ich will nur sagen, dass merkels “wir müssen jetzt” (analytisch-wissenschaftlich gepaart mit paternalistischen diskursen), söders “wir schaffen das – alle zusammen und gemeinschaftlich” (sportlich-politisch mit bayerischem daddy-karma) und müllers “ich weiss auch nicht. ich wollte nicht, ich musste aber, ich bin so traurig” (lehrling, der erwachsen wird) drei unterschiedliche ausformungen der selben sache sind. einem systemkonformen aneignung des solidaritätsbegriffs. hier gilt es sich aus emanzipatorischer, linker perspektive zu widersetzen.

– schließlich kann eine grundsätzliche werteorientierung auf 2 sachen beobachtet werden: “arbeit / wirtschaft” und “schule”. aus meiner sicht stellt dieses vielleicht die krasseste normierung dar, die mit dem lockdown einhergeht. das individuelle kerngeschäft wird im alten cdu-sinne neu definiert, back to the west-german-roots. in wahrheit sind die schulen kurz davor zu kollabieren (aber darüber redet die grosse koalition nicht) und der kapitalismus wird nicht dahingehend befragt, was denn eigentlich gerade wirklich “systemrelevant” ist und was dienstleistungsbullshit, der auch ein halbes jahr ruhen kann, ohne dass es jmd auffällt, ausser dem virus, weil der kann sich dann weniger weiterverbreiten.

und ich kann die frage nach “wer soll das denn bezahlen, wenn leute nicht arbeiten?” nicht mehr hören – es gibt genug instrumente, um geld reinzuholen, von der reichensteuer, erbschaftssteuer, finanztransaktionssteuer usw. alleine cum-ex hat den bund 50 MILLIARDEN an steuern gekostet. nur mal so als ersten schritt. aber da hängt ja der bundesfinanzminister scholz mit drin, darum lieber pscht pscht und “alle zusammen”.

ich finde, es ist zeit für eine gegenhegemoniale debatte zu diesen punkten, weil sonst ist die neoliberale und neokonservative “cdu-spd-welt” nach corona so dominant, dass die gesellschaftspolitische linke sich sehr lang machen werden muss, um dagegen anzukommen. und da habe ich persönlich keinen bock drauf.

Corona-Update #10

Handlungsleitfaden für Alltag

Die Corona-Forscherin Isabella Eckert hat eine Reihe von Punkten zusammengetragen, die aus ihrer Sicht praktisch angemessen im Umgang mit Corona sind. Auch wenn mir diese an einigen Stellen noch zu unsozial sind bzw. irgendwie eine Kernfamilie “im Hintergrund” voraussetzen, fand ich die Übersicht doch ganz hilfreich –> TEXT

Privatverschuldung

Julia Wasenmüller hat für die Rosa-Luxemburg eine interessante Studie über die Folgen der ansteigenden Privatverschuldung während Corona geschrieben: “Dieser Text soll dazu anstoßen, grundsätzlicher über das aktuelle Schuldensystem nachzudenken, das Thema Privatverschuldung aus verschiedenen aktivistischen Praxisfeldern heraus zu beleuchten und in die jeweiligen politischen Agenden zu integrieren. In Argentinien haben Feminist*innen den Schuldenbegriff in den vergangenen Jahren vermehrt politisiert und in ihre Kämpfe aufgenommen. Ausgehend von den Leerstellen im deutschsprachigen Diskurs stellt sich die Frage, was sichtbar wird, wenn wir uns von der argentinischen Debatte inspirieren lassen. Können wir an Organisierungsimpulse und Praxisbeispiele anknüpfen und sie produktiv auf die aktuelle Situation in Deutschland beziehen? –> TEXT

Skepsis gegenüber dominanter Corona-Interpretation und -politik

Corona-Statistik: Corona bedeutet auch den Kampf um Daten und deren Interpretation. Wie hoch sind Sterberate, Infektionsrate – wie sinnvoll ist das Tragen von Masken? Das corona-skeptische Swiss Policy Research Institute hat hierzu statistikbasierte 30 Thesen veröffentlicht, die belegen sollen, dass die gegenwärtigen Eindämmungsmaßnahmen in die falsche Richtung gehen. Statt dessen setzt das SPR auf eine Immunisierungsstrategie. Maßgabe hierfür ist, dass deutlich weniger Leute direkt an Corona sterben als bisher angenommen und die negativen gesundheitlichen Folgen der Eindämmungsstrategie deutlich gravierender sind –> THESEN

Corona-Sterblichkeit: Rene Gottschalk, Leiter des Frankfurter Gesundheitsamts hat in einem Bericht die “Eindämmung” als ausschließlichen Schwerpunkt der bisherigen Corona-Bekämpfungsstrategie kritisiert. Diese führe zum Zusammenfall auch jener Strukturen in den Gesundheitsämtern, die eigentlich für die Bekämpfung der Pandemie zuständig sein sollten. Daneben berichtete Gottschalk, dass es seinen Daten zufolge im ersten Halbjahr keine Übersterblichkeit in den Deutschland gegeben hätte, und die Corona-Fälle der zweiten Welle ab August von deutlich weniger schweren Krankheitsverläufen und weniger Krankenhauseinweisungen bekennzeichnet gewesen seien –> ARTIKEL

Corona-Tests: Der Mikro- und Molekularbiologe Andreas Bermpohl hat in einem Interview auf die ungenügende Aussagekraft der vom Robert-Koch-Institut veröffentlichten Fallzahlen verwiesen, da diese nicht in Relation zur Anzahl der Tests dargestellt würden. Zudem seien die massenhaft verwendeten PCR-Corona-Tests nicht in der Lage, eine valide Aussage über die Anzahl von wirklich ausgebrochenen Corona-Krankheiten zu geben, bei denen die Person erkrankt und infektiös sei:

„Als Mikrobiologe und Molekularbiologe erscheint es mir wichtig, sachlich auf die Frage einzugehen, wie sicher denn der derzeit angewendete Corona-Test für den Nachweis einer Infektion mit SARS-COV 2 ist. Viele Menschen müssen hier ja auf Sachzusammenhänge vertrauen, die zum Teil nur Fachleuten zugänglich sind. […] Ein PCR-Test kann durch Abstriche diagnostisch nur den Verdacht auf eine Infektion darstellen, da er nur Teile eines Infektionserregers oder den Erreger an einem Ort wie etwa der Schleimhaut nachweist. Der Nachweis der bloßen Anwesenheit ist nicht ausreichend für die ’Tat’ : die Infektion von Epithelzellen des Atemtraktes. Und selbst bei ausgeführter ’Tat’ führt eine Infektion nicht zwangsläufig dazu, selbst als Individuum infektiös zu sein und auch nicht zwangsläufig zu einer Erkrankung des betroffenen Individuums.” –> INTERVIEW

Verschwörungstheorien

Ingar Solty hat einen sehr dichten und trotzdem sehr lesenswerten Beitrag über Verschwörungstheorien während Corona geschrieben, in dem er diese aus sozialpsychologischer und materialistischer Perspektive einordnet. Besonders gut fand ich dabei seinen Zugang, die Verschwörungstheorien auf ihren empirischen Gehalt zu befragen, der auch von ihm geteilt wird – also beispielhaft eine verschwörerische Bill Gates-Kritik mit einer linken Kritik am Einfluss von Bill Gates auf die globale Gesundheitspolitik abzugleichen.

Grundlage hierfür ist Soltys Definition von Verschwörungstheorien: “Bezüge zu Verschwörungstheorien erkennt man an wenigstens vier Elementen: 1. an der einfachen Personalisierung von gesellschaftlichen Verhältnissen (Gates, Soros, Rothschild), die oft antisemitische Untertöne und Botschaften vermittelt; 2. am manichäischen Denken – die Mainstream-Medien versus die Alternativmedien –, das keine Schattierungen erkennt, Faschisten, Liberale, Konservative, Sozialdemokraten, Kommunisten und Anarchisten nicht unterscheiden kann, die vereinzelten kritischen Stimmen in den Mainstream-Medien nicht wahrnimmt und auch zu den Richtungskämpfen in den bürgerlichen und linken Medien keine Einstellung hat; 3. daran, dass das Ergebnis der Diskussion für Vertreter*innen von Verschwörungstheorien von vornherein feststeht. Sie diskutieren nicht, um etwas hinzuzulernen, um eine andere Perspektive und andere Erfahrungen kennenzulernen, sondern als wüssten sie schon alles. Und schließlich erkennt man sie daran, dass sie sich 4. in der Regel mit Händen und Füßen gegen die Vorstellung wehren, man könne noch etwas ändern, schon gar nicht innerhalb des politischen Parteiensystems. Denn die Verschwörungstheorie, die individuell vor dem Computerbildschirm – anstatt in einer lokalen Parteiorganisation, Gewerkschaft, Antifagruppe etc. – erworben wurde, ist häufig auch eine Rechtfertigung für die eigene Inaktivität jenseits des ständigen Raunens und Rechthabens in den Kommentarfunktionen der sozialen Medien.” –> TEXT

Medien-Kiste #2

Defund the police

Maximilian Pichl hat bereits im August einen sehr interessanten Artikel über die “defund the police”-Debatte in den USA und ihre Rezeption in Deutschland geschrieben. Im Hinblick auf die aktuelle Polizeidebatte, rechte Chatgruppen und Rufe nach Rassismusstudien sehr lesenswert – genauso wie das Zitat von James Baldwin, das Pichl anführt: “„Ein Polizist ist ein Polizist. Und er könnte ein netter Mensch sein, aber ich habe keine Zeit das herauszufinden. Alles was ich weiß, er hat eine Uniform und eine Pistole. Das ist die einzige Weise, in der ich zu ihm in Beziehung stehe.“” –> TEXT

Linke Männlichkeit*

Das Y-Kollektiv hat unter dem Titel “Männlichkeit unter Beweis: Männer auf dem Weg zu sich selbst” einen 45-minütigen Dokumentarfilm über gegenwärtige Formen von Männlichkeit* gedreht, der neulich in der ARD lief. Ich habe bisher nur positives gehört…

Neues vom Rap

Die Berliner Rapperin Lena Stoehrfaktor hat einen neuen Track veröffentlicht: “Zuhause im Nebel (prod. von Tapete)”

Media-Kiste #1

HARTZ-IV

Zwar schon von 2018, aber gerade erst entdeckt: Kinder aus Hartz-IV-Familien berichten in einem Video über die permanenten Gängelungen durch die Jobcenter:

MORIA

Joko und Klaas haben gegen Pro7 gewonnen und ihren Gewinn, 15 Minuten Sendezeit, dem Geflüchteten-Lager in Moria gewidmet.

PATRIARCHAT

Carolin Wiedemann hat einen lesenswerten Text zum Stand des Patriachats geschrieben, indem sie formuliert, was Privilegien von Männern* heute bedeuten und wie diese von jenen Männern*, die sich als “feministische allies” verstehen, hinterfragt und abgebaut werden sollten: “Die eigenen Privilegien hinterfragen bedeutet auch, den eigenen Habitus zu reflektieren, darüber nachzudenken, wie laut und wie oft man die Stimme erhebt, wieviel Raum man zu nehmen gewohnt ist, in welchem Ton man spricht, gerade mit denen, die nicht als Männer gelten. Und auch: Die eigene Wahrnehmung, das eigene Empfinden, die Affekte und den Umgang damit herauszufordern. Den Körperpanzer aufzubrechen, nicht nur denen zuliebe, die im Patriarchat systematisch ausgebeutet und abgewertet werden, auch sich selbst zuliebe.” –> TEXT