Monthly Archives: March 2020

Corona Update #6

CORONA-EINDÄMMUNG

Momentan kursieren parallel zu den in Deutschland beschlossenen Eindämmungsmaßnahmen eine Reihe öffentlicher Stellungnahmen, die Sinn und Zweck der Maßnahmen und eine zukünftige Strategie im Umgang mit C19 diskutieren. Da diese Stellungnahmen momentan nicht abschliessend bewertet werden können, versuche ich jene aufzulisten, die mir momentan am diskutabelsten erscheinen. Ich diskutiere dabei explizit nicht die politischen Implikationen, z.B. von verschärften Grenzkontrollen. Dieses müsste in einem zweiten Schritt passieren.

(1) Die gegenwärtigen Eindämmungsmaßnahmen werden vom staatlichen Robert-Koch-Institut (RKI) angeleitet. Dieses versucht durch kombinierte Maßnahmen von “sozialer Distanzierung”, dem Schutz von Risikogruppen und der Absonderung von C19-Erkrankten ein zu starkes Ansteigen der C19-Infektionskurve zu verhindern. –> STRATEGIE DES RKI

(2) Der Mikrobiologe und Viruloge Alexander Kekulé (–> BIOGRAPHIE) spricht sich in seinem Beitrag für eine schrittweise Aufhebung der Kontaktsperre und neue mittelfristig anzuwendene Umgangsregeln aus, die eine rasche Ausbreitung von C19 verhindern sollen: “Wie können wir die Epidemie kontrollieren, ohne den Lockdown zum Dauerzustand zu machen? Der folgende Vorschlag besteht aus drei Elementen: 1. Smart Distancing; 2. Individuelle Vigilanz; 3. Deeskalierende Grenzkontrollen” –> ARTIKEL

(3) Auf facebook hat der Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin (–> BIOGRAPHIE) die aktuelle Vorgehensweise der Bundesregierung als nicht zielführend kritisiert, da sie zu viele Opfer mit sich brächte. Statt dessen spricht er sich für eine Strategie des “cocooning” (Schutz der besonders gefährdeten Bevölkerungsteile) in Verbindung mit Massentests aus.

Ich möchte hier einige Thesen zur Coronakrise zur Diskussion stellen. Kommentare sind willkommen. Polemik nicht. Die…

Gepostet von Julian Nida-Rümelin am Freitag, 27. März 2020

Corona Update #5

CORONA-ANGST

Viele Leute ergreift derzeit eine Angst vor einer Corona-Infektion, viele anderen verarbeiten immer noch den Kontrollverlust einer sich ausbreitenden Pandemie. In dem Psychologie-Podcast “Quarantäne-Cast: Meine Psyche, Corona und ich” werden psychologische Fragen rum um die gegenwärtige Pandemie behandelt. Hier die Folge zu “Was tun gegen die Corona-Angst?” –> LINK — eine Übersicht über alle Folgen hier –> LINK

CORONA-BEHANDLUNG

Momentan gibt es viele Berechnungen darüber, wann die jeweiligen nationalstaatlichen Gesundheitssysteme angesichts der C19-Pandemie an ihre Kapazitätsgrenzen kommen können. Auslöser hierfür ist die Überlastung des Krankenhaus- und Pflegesektors in Norditalien, was zu einem drastischen Ansteigen der Opferzahlen geführt hat. Hierzu wurde nun eine Karte veröffentlicht, die europaweit die Versorgungsmöglichkeit älterer Menschen, die auf Grund körperlicher Verfassung und Vorerkrankungen besonders durch eine C19-Infektion gefährdet sind, durch die jeweiligen Gesundheitssysteme benennt. Indikator sind hier die Anzahl älterer Menschen pro Krankenhausbett. Hier zeigen sich bereits europaweit massive Unterschiede.

CORONA-FORSCHUNG

Die wissenschaftliche Untersuchung von C19 und die Suche nach einem Impfstoff sind in das gegenwärtige Wissenschaftssystem eingebettet. Insbesondere an der Drittmittelorientierung gibt es immer wieder Kritik, da diese der Forschung eigene Leitlinien auferlegt, die nicht der sinnvollsten Forschung entsprechen und diese verzögern. Christian Drosten, der durch seinen täglichen Corona-Podcast bundesweit bekannt geworden ist (ÜBERSICHT ÜBER PODCAST-FOLGEN), äußerte sich dazu in einem der letzten Podcasts:

Korinna Hennig: Das ist ja ohnehin ein großes Problem im wissenschaftlichen Arbeiten, dass man sagt, auch diese Drittmitteleinwerbung ist immer wichtiger geworden und frisst einen immer größeren Teil der Forscher in ihrer tatsächlichen alltäglichen Arbeit.

Christian Drosten: Wir sehen in der jetzigen Wissenschaftstätigkeit an der Epidemie, dass das Einwerben von Drittmitteln in seinem zeitlichen Umfang nicht mehr zu schaffen ist. Wir brauchen da unbedingt andere Mechanismen, wie wir direkt Geld dahin steuern können, wo es auch wirklich gebraucht wird, wo es wirklich eingesetzt werden kann. Und wo nicht denjenigen, die die Patienten behandeln und beforschen, die Zeit gestohlen wird.” –> PODCAST 23

CORONA-ENTWICKLUNG

In einer Reihe von Beiträgen zu C19 wird weiterhin die These vertreten, dass es sich bei C19 um eine “übliche Grippewelle” handelt. Dass dieses zumindest für New York City nicht stimmt, zeigt anschaulich diese Grafik:

KINDERSCHUTZ

100 Wissenschaftler*innen fordern in einer gemeinsamen Erklärung einen Krisenstab zur mehr Kinderschutz in der Corona-Krise. Im Interview erläutert Maud Zitelmann den Grund für die gemeinsame Erklärung: “Wir wissen, dass viele Kinder und Jugendliche durch die derzeitigen Kontaktsperren massiv gefährdet sind. Häusliche Isolation ist für Heranwachsende, denen in den Familien Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch droht, eine Katastrophe. Für manche ist das lebensgefährlich. Gerade jetzt müssten Kinderschutz und Jugendhilfen ausgebaut werden. Wir erleben seit Tagen aber genau das Gegenteil. Hilfen werden zurückgefahren, Verbindungen gekappt, die gefährdeten Kinder geraten aus dem Sichtfeld.” –> INTERVIEW 

MIETENPOLITIK

In Berlin hat eine Gruppe von Besetzer*innen angefangen, leerstehende Wohnungen zu besetzen und diese an Obdachlose zu übergeben, da diese in der Corona-Krise schutzlos seien: “Die AktivistInnen öffnen die Wohnungen, um sie an Obdachlose weiterzugeben. „Die Coronakrise zeigt nochmals viel deutlicher die Verletzlichkeit von Obdachlosen und Menschen in Lagern.“ Diese hätten „keine Privatsphäre, keine Hygiene, keinen Schutz“, sagt der Besetzer, der sich Kim Schmitz nennt, zu ihrer Motivation. Für mehrere Wohnungen stünden Obdachlose bereit. Sie würden von den AktivistInnen umfassend unterstützt, auch mit Anwälten und dem Versprechen Geldstrafen zu übernehmen, falls die Aktion auffliegt.” –> ARTIKEL

SICHERHEITSPOLITIK

Thomas Gebauer von medico international warnt vor der Überhöhung eines Sicherheitsbegriffs, der oft nur eigene Interessensgebiete und Privilegien verteidigt, und so universelle Menschenrechte außer Kraft setze:

“Wer sich nicht der Logik des Ausnahmezustandes ergeben will, muss für die Idee einer offenen Gemeinschaft freier Menschen streiten. Dazu bedarf es nicht zuletzt eines kritischen Verständnisses von Recht und Sicherheit. Gerade in Krisenzeiten, wenn das Bemühen um Sicherheit Hochkonjunktur hat, ist das vonnöten. Wer wäre in unsicheren Zeiten nicht für Sicherheit? Die Sache aber ist komplizierter. Bei aller Verführung, die im politischen Streben nach Sicherheit liegt, bleibt unklar, was unter Sicherheit verstanden wird, wer Sicherheit definiert und für wen sie geschaffen werden soll. […]
Wer von Sicherheit spricht, hat zuallererst die eigene Sicherheit im Blick – eine Sicherheit, die an bestimmte Territorien oder Privilegien gebunden ist. Für das Prinzip der Universalität, auf das sich die Menschenrechte gründen, gibt es in sicherheitspolitischen Überlegungen keinen Platz. Drängen Menschenrechte auf den Einschluss aller, kommt Sicherheit mit Abschottung aus. Mit Sondermaschine werden in diesen Tagen 100.000 Tourist*innen aus fernen Urlaubsgebieten zurückgeflogen, aber ein paar tausend schutzsuchenden Flüchtlingen die Aufnahme verweigert.” –> ARTIKEL

Corona Update #4

CORONA-EINDÄMMUNG

In einem internen Strategiepapier des Bundesinnenministeriums werden drei unterschiedliche Pandemie-Verläufe im Hinblick auf die sozialen Folgen in Deutschland diskutiert. Dabei werden unterschiedliche Ausbreitungsgeschwindigkeiten, Quarantänemaßnahmen und Testverfahren angenommen. Die Opferzahlen für den “worst-case” sind mit 1,2 Millionen Toten erschreckend. Im “besten Fall” wird von einer 7-monatigen Quarantäne ausgegangen, was zusammen mit massenhaft C19-Tests zu einer deutlich geringeren Opferzahl führt –> ZUSAMMENFASSENDER ARTIKEL 

KAPITALISMUS

Die Corona-Krise hat zu einer starken Nachfrage nach medizinischen und hygienischen Produkten geführt, die nun dazu geführt hat, dass die Herstellerfirmen die Preise für diese massiv erhöht haben:

Dieses betrifft insbesondere Krankenhäuser, die ohne die entsprechenden Schutzutensilien nicht ihre Arbeit verrichten können:

KLASSENGESELLSCHAFT

Die gesellschaftsweite Quarantäne betrifft Menschen in unterschiedlichem Maße. Einige müssen arbeiten gehen, andere können zu Hause und dadurch virusbezogen “geschützt” bleiben. Einige ziehen sich in ein wohlbehagliches Zuhause zurück, andere müssen in beengten Geflüchtetenunterkünften oder schimmeligen Wohnungen wohnen. Elsa Köster geht in ihrem lesenswerten Beitrag den unterschiedlichen, bereits vor Covid-19 existierenden Bruchstellen einer Klassengesellschaft nach, die sich nun mit Ausbruch der Pandemie zuspitzen –> ARTIKEL

MIETENPOLITIK

150 Wissenschaftler*innen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema Wohnen beschäftigen, haben einen Forderungskatalog erstellt, der Maßnahmen für den Wohnungsmarkt vorsieht, um der mit Covid-19 verbundenen sozialen Krise entgegenzuwirken:

  • “Sofortiges Moratorium von Kündigungen, Zwangsräumungen, Mieterhöhungen, Energie- und Wassersperren für Wohn- und Gewerbemieter*innen
  • Wohnungs- und Obdachlosein Hotels und leeren Wohnungen unterbringen: Menschen in Unterkünften – in Notunterkünften für Geflüchtete, in Notübernachtungen für Obdachlose oder anderen Formen der Unterbringung – sind besonders der Ansteckung mit Covid-19 ausgesetzt, genauso wie Menschen, die dort arbeiten. Gleichzeitig stehen zahlreiche Hotelzimmer und Wohnungen leer, die eine Einzelunterbringung ermöglichen. Die Ausfälle von Einnahmen bei Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe müssen ersetzt werden.
  • Mieter*innenlangfristig schützen: Durch die Corona-Krise anfallende Mietschulden müssen nicht zu einem späteren Zeitpunkt gezahlt werden, sondern werden durch die Immobilienwirtschaft getragen und, sofern dies nachweislich nicht möglich ist, durch einen einzurichtenden Hilfsfonds, an den sich in Not geratene Vermieter*innen wenden können.
  • Gewerbetreibende bei Verdienstausfall unterstützen: Ebenso wie der Ausfall von Wohnmietzahlungen darf auch das Ausbleiben der Zahlung von Gewerbemieten kein Grund für Kündigung sein.” –> LINK

MIGRATION 

Die portugiesische Regierung erkennt bereits im Land befindliche Geflüchtete an, und erteilt diesen eine befristete Aufenthaltserlaubnis: “Wer in Portugal vor dem 18. März, als dort der Ausnahmezustand im Kampf gegen das Coronavirus ausgerufen wurde, eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt hat, bekommt diese jetzt automatisch erteilt. Mit dem Antrag in der Hand werden die Betroffenen bis mindestens zum 1. Juli diesen Jahres die vollen Rechte genießen. Sie werden in die Sozial- und Krankenversicherung aufgenommen, können arbeiten, Arbeitslosengeld beantragen und ein Bankkonto eröffnen. Das gilt auch für Flüchtlinge, die Asyl beantragt haben. Und wer ein Visum hatte, das nach dem 25. Februar verfallen ist, darf bis zum 30. Juni im Land bleiben.” –> LINK

SOZIALE BEZIEHUNGEN UND FAMILIE

In den jeweiligen landespolitischen Verordnungen zur Ausgangssperre werden soziale Beziehungen definiert, mit den es noch erlaubt, sich zu treffen. Marie Schmidt beschreibt, welche Frage eine Politik des “social distancing” aufwirft, die sich am Modell der Kernfamilie und der Kernbeziehung orientiert:

“Zu den Dingen, die man vor Tagen noch für unerhört gehalten hätte, gehört, wie bang man jetzt das eigene Beziehungsleben mit einem behördlichen Maßnahmenkatalog abgleicht. Die bayerische Allgemeinverfügung besagt etwa, dass die “Kontakte zu anderen Menschen außerhalb des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren” seien. In 54,4 Prozent der Haushalte der Landeshauptstadt München und 42 Prozent der Haushalte republikweit blicken nun die Bewohner stumm um einen leeren Tisch herum. In den letzten Jahren ist der Anteil der Singlehaushalte stetig gestiegen.

Schon klar, dass die Kontaktbeschränkungen kein moralisches Reglement darstellen, sondern ein pragmatisches gegen die Ansteckung mit dem Coronavirus. Ein gesellschaftlicher Rückschritt entsteht aber gezwungenermaßen auch, wenn die Kategorie des “absolut nötigen” Kontakts der Kernfamilie wieder die Form der abgeschlossenen Einheit gibt, von der Soziologen und Psychologen zuletzt aus guten Gründen abgeraten haben. Die Fürsorge für Kinder und andere Menschen auf viele Schultern und mehrere Generationen zu verteilen; Ressourcen, wie Autos zum Beispiel, mit vielen Personen zu teilen und sowieso die intimsten Beziehungen nicht mit der Erwartung zu überfrachten, alle möglichen Lebensprobleme aufnehmen zu können – all das ist zuletzt als fortschrittliche Lebensweise gepriesen worden.” –> LINK

Corona Update #3

Hier eine kurze Auswahl unterschiedlicher Positionen in chronologischer Form: 

11. März 2020: Ernstnehmen der Pandemie

Jens Berger schrieb noch vor ca. 3 Wochen über die Ausgrenzung jener Positionen, die die Covid-19 ernst nehmen: “Wer über das Coronavirus schreibt, läuft schnell Gefahr, von einigen Zeitgenossen als „Panikmacher“ abserviert zu werden. Unter Verweis auf den meist mild oder gar symptomfreien Krankheitsverlauf wirken Forderungen nach konsequenten Eindämmungsmaßnahmen in der Tat schnell überzogen. Doch hier wäre mehr Differenzierung nötig. Denn Personen, die älter als 65 oder vorerkrankt sind, nutzen die „schnupfenähnlichen“ Symptome junger, fitter Erkrankter herzlich wenig. Hier geht es um kalte Wahrscheinlichkeiten und erst wer das verstanden hat, kann die Risiken richtig einordnen.” –> LINK 

15. März 2020: Kontaktverbot und Grundrechtsschutz

Bereits am 15.3. schrieb Heribert Prantl einen lesenswerten Kommentar zum Verhältnis von C19-Eindämmung bzw. Prävention und Grundrechten, primär aus der Perspektive des Grundrechtsschutzes:

“Im Moment ist der demokratische Souverän, das Volk, mit allen Maßnahmen einverstanden. Es gibt fast schon Dankbarkeit, dass jetzt das Notwendige getan wird. Es gibt das große Wir-Gefühl: “Wir halten zu den Alten.”.  Und wenn das Wir-Gefühl mit der Zeit zerbröselt? Muss dann mehr Kontrolle her? Mehr Überwachung? Mehr Polizei? Es wird, je länger die Krise währt, und wie lange sie währt weiß im Augenblick niemand, wachsame Demokraten genauso brauchen wie gute Virologen. Gesellschaft und Demokratie leben von dem und bestehen aus dem, was jetzt “Sozialkontakt” heißt, und was jetzt rigoros vermieden werden soll – aus Gründen der Solidarität mit den von Corona besonders gefährdeten Menschen. Die Experten versprechen, dass auf diese Weise viel ausgerichtet werden kann zur Vermeidung von Infektionen. Man muss aber auch fragen, was angerichtet wird, wenn Grundrechte und Grundfreiheiten stillgelegt und das gesellschaftliche Miteinander ausgesetzt werden. Wird die Corona-Krise zur Blaupause für das Handeln in echten oder vermeintlichen Extremsituationen?” –> LINK

26. März 2020: #CoronaPolizei

Die Durchsetzung der Kontaktsperre hat in vielen Bundesländern zu der Frage gehört, wie weit der Interpretationsspielraum der Polizei geht und ob die jeweiligen Verordnungen sinnvoll sind. Unter dem Hashtag #CoronaPolizei werden auf Twitter Erlebnisse geteilt und Fragen dazu formuliert. –> LINK

Gleichzeitig werden die Verordnungen an sich hinterfragt, hier für Berlin:

“Leben während der Corona-Pandemie ist in vielerlei Hinsicht gruselig. Nicht nur, dass die Todeszahlen in vielen Ländern steigen, auch werden in Berlin und anderen Städten und Ländern wissenschaftlich nicht-evaluiert massive Einschränkungen des Lebens durchgeführt. Deren soziale und wirtschaftliche Folgekosten sind ebenso unabsehbar wie die Wirksamkeit der Maßnahmen. Es ist ein Ritt auf der Rasierklinge.

Und natürlich bleiben die meisten Menschen, auch in Berlin, zuhause. Aber welchen Nutzen hat es, wenn man in einem Park nicht mal alleine auf einer Bank ein Buch lesen darf? Und wie hilft es, wenn die Polizei in einschüchternder Weise und mit breitbeinigem Auftreten unklare Regeln des Kontaktverbots durchsetzt.

Selbst, wenn man Polizist:innen keinen bösen Willen unterstellt, lassen die Regelungen einen gefährlichen Handlungsspielraum für die ausführende Exekutive. Denn die es als Gewaltmonopolist ohnehin gewohnt, Spielräume zu nutzen. Das ist gefährlicher, als es klingt.” –> KOMMENTAR

Corona Update #2

ARBEITSVERHÄLTNISSE

Während der Einzelhandel in vielen Staaten kollabiert, gibt es auch Unternehmen wie Amazon, die von der Corona-Pandemie und der mit ihr verbundenen Einschränkungen massiv profitieren. Dieses jedoch auf Kosten der Amazon-Angestellten und -Arbeiter*innen, die weiterhin in unmittelbarer Nähe zueinander arbeiten müssen, bei erhöhtem Arbeitstempo und ausbleibendem Gesundheitsschutz. Nun hat sich die transnationale Allianz “Amazon Workers International” mit einer Erklärung und eigenen Forderungen an die Öffentlichkeit gewandt. Kernforderung ist die Schließung aller Amazon-Warenlager bei voller Lohnfortzahlung, und bis dahin gesonderte Schutz- und Hygienemaßnahmen, eine Gefahrenzulage sowie eine Reduzierung der Arbeitszeit –> ERKLÄRUNG 

GESUNDHEITSPOLITIK

Die aktuelle Corona-Pandemie muss vom jetzigen Gesundheitswesen aufgefangen werden, das jedoch seit den 1980er Jahren neoliberal restrukturiert und ökonomisiert wurde. Kalle Kunkel von ver.di beschreibt in einem Interview von 2017, was dieses konkret im Pflege- und Behandlungsalltag bedeutet:

MIGRATION

Im Zuge der Pandemiebekämpfung wurden die europäischen Außen- und Binnengrenzen geschlossen, und Ressourcen aus den Lagern für Geflüchtete abgezogen. Ein Lager ist das Lager Moria aus Lesbos, in dem momentan ca. 20.000 Menschen leben müssen, ohne Schutz vor der Corona-Pandemie und zunehmend auch ohne grundlegende Nahrungsmittelversorgung. Während sich migrationspolitische Initiativen und NGOs hinter der Forderung “leave no one behind” für eine Evakuierung des Lagers einsetzen, reagiert bisher weder die griechische Regierung noch die Europäische Union –> ARTIKEL ZUR SITUATION IN MORIA

MILITARISIERUNG

Wie Spiegel-online berichtete, bereitet die Bundeswehr die Mobilisierung von 15.000 Soldaten bis zum 3. April vor (–> ARTIKEL). Die “Informationsstelle Militarisierung” (IMI) kritisiert dieses scharf und interpretiert dieses als offenen Verfassungsbruch, da keine Rechtsgrundlage für diese umfassende Mobilisierung bestehe. Zwar sei ein Teil für den Aspekt der Katastrophenhilfe legitimiert, jedoch nicht die Übernahme polizeiähnlicher, exekutiver Aufgaben. Die IMI kommt daher zu dem Schluss:

“Verteidigungsministerium, Bundeswehr und die beteiligten Innenministerien, z.b. Baden-Württemberg, bereiten aktuell mit Ansage einen offensiven Verfassungsbruch vor. […] Seehofer [spielte] bereits vor knapp zwei Wochen mit der Rechtsfigur des ‚übergesetzlichen Notstands‘ und damit mit der Option die Verfassung angesichts der aktuellen Lage bewusst und offensiv zu brechen. Was den Einsatz der Bundeswehr in Inland angeht ist jetzt der Punkt gekommen, wo sich auf diesen Verfassungsbruch aktiv vorbereitet wird. Ist dieser Geist erst einmal aus der Flasche, wird er dahin so schnell nicht zurückkehren. Damit ist auch der Punkt gekommen, wo sich Zivilgesellschaft, Friedens-, Bürgerrechts- und Antifaschistische Bewegung aktiv gegen diesen autoritären Schritt wehren müssen. Über die Welt nach der Corona-Pandemie wird jetzt entschieden!” –> IMI Erklärung

Corona Update #1

ARBEITSVERHÄLTNISSE

Das “Netzwerk Arbeitskämpfe Hamburg” hat in ihrer Stellungnahme “Keine Krisenlösung auf unsere Kosten” drei Grundforderungen im Umgang mit der Corona-Pandemie ausformuliert. Neben einem generellen Mietenerlass und einer solidarischen Vergemeinschaftung des Gesundheitssektors fordert das Netzwerk eine sofortige Stilllegung nicht-überlebenswichtiger Industriezweige zum Schutz der Angestellten: “Immer noch werden Menschen trotz der Ansteckungsgefahr gezwungen an ihre Arbeitsplätze zu kommen und unter Umständen, die in der momentanen Situation unzumutbar sind, zu arbeiten. Tausende Menschen werden in Lebensgefahr gebracht für die Produktion nicht lebensnotwendiger Waren (wie beispielsweise Flugzeuge) in Zeiten, in denen alle lieber zuhause bleiben sollten. Wir fordern: Produktionsstopp und Einstellung aller nicht unmittelbar lebensnotwendigen Dienstleistungen bei voller Lohnfortzahlung! Anpassung des Arbeitsschutzgesetzes an die momentane Lage!” –> STELLUNGNAHME 

BÜRGERRECHTE

Die bürgerrechtliche Europäische Akademie für Informationsfreiheit und Datenschutz hat in einer Erklärung Einspruch dagegen erhoben, wie die Maßnahmen zur Eindämmung  von Corona verabschiedet wurden (–> ERKLÄRUNG). Konkret: (1) Primat der Pandemie drängt Grund- und Bürgerrechte konsequent in den Hintergrund, anstatt diese gleichrangig zu behandeln; (2) Keine zielführende und nachvollziehbare Debatte darüber, ob und wie die Maßnahmen substantiell etwas bringen können und sollen, (3) Keine klaren Kriterien für ein Ende der Eindämmungsmaßnahmen, keine Befristung:

“Alle neu erwogenen Maßnahmen müssen sich daran messen lassen, ob sie für eine wirkungsvolle Pandemiebekämpfung wirklich zielführend und erforderlich sind und ob sie den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit einhalten. Einseitiges Streben nach einer umfassenden Sicherheit darf nicht den bisherigen gesellschaftlichen Konsens über die wertsetzende Bedeutung bürgerlicher Freiheits- und Persönlichkeitsrechte so überlagern, dass es zu einer langwirkenden Verschiebung zugunsten staatlicher Überwachung und zu Lasten freier und unbeobachteter Aktion, Bewegung und Kommunikation der Bürgerinnen und Bürger kommt. Eine Befristung neuer gesetzlicher Kompetenzen und ihre unabhängige Evaluierung ist unerlässlich, um Geeignetheit und Erforderlichkeit für die Zukunft sachgerecht beurteilen zu können.” –> BERICHT

CORONA-DATEN

Momentan werden minütlich neue Daten für das weltweite Corona-Lagebild erstellt, gesammelt und verarbeitet. Netzpolitik arbeitet nun für Deutschland die Probleme bei einer genauen Datenerfassung auf: diese reichen von uneinheitliche Corona-Fragebögen, unterschiedlichen Übermittlungsformen von Corona-Einzelfällen (bis zum Fax), unterbesetzten Gesundheitsämtern bei weiterhin steigenden Infiziertenzahlen bis zur weiterhin bestehenden annehmbar grossen Dunkelziffer von bereits Infizierten –> ARTIKEL

CORONA-STRATEGIE

Das in Deutschland federführende Robert-Koch-Institut gibt regelmässig ein Bulletin heraus, das über den Stand der Corona-Pandemie informiert. Im Bulletin vom 19.3.2020 ist die kombinierte Strategie aus Containment (Eindämmung), Protection (Schutz) und Mitigation (Folgewirkung-Abfederung) relativ anschaulich beschrieben . “Die von der Weltgesundheitsorganisation propagierten Phasen Containment, Protection und Mitigation sind Konzepte, die sich nicht ablösen, sondern deren Komponenten sich gegenseitig ergänzen und stärken, wenn die Epidemie weiter fortschreitet” (–> BULLETIN, Erklärung der Strategie auf S.3-7)

MEDIENPOLITIK

In seinem bereits am 17.3. erschienenen lesenswerten Beitrag für “Übermedien” stellt Andrej Reisin die Frage, wer in den kommenden Wochen und Monaten eigentlich bewerten kann, was “fake news” sind. Auslöser war die im konservativen parteipolitischen Lager erhobene Forderung, die Verbreitung von “fake news” in Bezug auf Corona strafrechtlich zu verfolgen.

Reisin kritisiert in diesem Zusammenhang eine sehr staatstreue Berichterstattung der Massenmedien, die dringend nötige Fragen zum staatlichen Umgang mit der Corona-Pandemie und den diesem zu Grund liegenden Strategien, Modelle und nationalstaatlich unterschiedlichen Vorbildern nicht bereit sei zu stellen,: “Warum gefallen sich deutsche Medien in ihrer Mehrheit darin, eilig die jeweils aktuellen Maßnahmen zu verkünden und implizit wie explizit immer noch härtere zu fordern, anstatt exakt diese Diskussion zu führen?”

Es könne “in Krisenzeiten nicht die eigentliche Aufgabe der Medien [sein], den verlängerten Arm der Regierung zu spielen und Kampagnen à la „Wir vs. Virus“ (die „tagesschau“ auf Social Media) zu inszenieren”. Statt dessen müsse der “Ritt auf der Rasierklinge” ausgehalten werden, d.h. “auf der einen Seite nichts zu verharmlosen und nicht den Eindruck zu erwecken, die Maßnahmen seien übertrieben, und auf der anderen Seite Regierungshandeln weiter distanziert zu begleiten und, wo nötig, zu kritisieren”. –> ARTIKEL

UMWELT

Tadzio Müller beschreibt in einem Kommentar erste Anzeichen dafür, wie die Corona-Pandemie und vor allem die getroffenen Gegenmaßnahmen das Feld der Umweltpolitik mittelfristig verändern werden. Schwerpunkt: der Rückgang an Emissionen, der neue Umgang mit von der Corona-Krise schwer getroffenenen “dreckigen Industrien” und die Legitimität für das Zurückfahren wirtschaftlicher Tätigkeiten, also die “radikale Reduktion wirtschaftlicher Aktivität”  –> KOMMENTAR