Monthly Archives: October 2020

November Lockdown

für alle, die es bisher nicht sehen konnten: hier die 50 minütige pressekonferenz von merkel, söder und müller von gestern zum lockdown. irgendwie eine grundsteinlegung für die kommende zeit.

um es vorab zu sagen: ich kann persönlich und allgemeinpolitisch mit dem lockdown leben.

aber der “solidaritäts-diskurs”, der gerade von neoliberaler und neokonservativer seite als deutungsrahmen der “zweiten welle” eröffnet wird, warum es den lockdown geben sollte, ist aus meiner sicht nur zynisch und ein hegemonialer frontalangriff auf eine linke kritik der gegenwärtigen bundesdeutschen politik.

hierzu zähle ich:

leugnung der negativen effekte neoliberaler sparpolitik in den bereichen gesundheit und bildung, die erst die grundlage für “zu wenig krankenhausbetten” und “probleme bei der beschulung” darstellen

– dadurch zusätzliche abwälzung von care- und sozialer arbeit auf lehrer*innen / kita-erzieher*innen / pflegende, und das OHNE entsprechende ausstattung der arbeitsstätten, schutzmaßnahmen oder gar zusätzliches entgeld

instrumentalisierung von linken bewegungsdiskursen, um legitimität für den lockdown zu schaffen, obwohl es insbesondere die neokonservativen seit jahrzehnten einen scheissdreck interessiert, wie es zum beispiel “verprügelten frauen und kindern” geht. die kräfte, die dieses jetzt zum anlass für das aufrechterhalten von schule und kita nehmen, damit keine häusliche gewalt stattfinden, sind die gleichen kräfte, die die programme der frauenhäuser und -notrufe und der jugendhilfe über jahre gestrichen und permanent in frage gestellt haben. kiss my ass.

– in diesem sinn auch: eine instrumentalisierung einer durch covid ausgelösten “sozialen krise”. wenn ich spd-müller reden höre, denke ich wirklich, es hätte den sozialdemokratischen neoliberalismus und hartz iv nie gegeben. für einen relevanten teil der bevölkerung ist die “soziale krise” doch staatlich und besonders von der spd unter rot-grün bereits verordneter alltag – und zwar seit jahren. armut, hunger, schlechte gesundheit, keine kulturelle teilhabe. dass sich jetzt ausgerechnet die spd hinsetzt, und die sozialen belange vertreten will, ist nur noch hohn gegenüber jenen, auf deren rücken sich die spd profiliert hat und dieses nun wieder versucht.

– die instrumentalisierung des solidaritätsgedankens: ist bereits oben fast alles zu gesagt, remember: spaltung der gesellschaft in arm und reich, klassenkampf von oben durch gängelung und stimatisierung von armen usw.. ich will nur sagen, dass merkels “wir müssen jetzt” (analytisch-wissenschaftlich gepaart mit paternalistischen diskursen), söders “wir schaffen das – alle zusammen und gemeinschaftlich” (sportlich-politisch mit bayerischem daddy-karma) und müllers “ich weiss auch nicht. ich wollte nicht, ich musste aber, ich bin so traurig” (lehrling, der erwachsen wird) drei unterschiedliche ausformungen der selben sache sind. einem systemkonformen aneignung des solidaritätsbegriffs. hier gilt es sich aus emanzipatorischer, linker perspektive zu widersetzen.

– schließlich kann eine grundsätzliche werteorientierung auf 2 sachen beobachtet werden: “arbeit / wirtschaft” und “schule”. aus meiner sicht stellt dieses vielleicht die krasseste normierung dar, die mit dem lockdown einhergeht. das individuelle kerngeschäft wird im alten cdu-sinne neu definiert, back to the west-german-roots. in wahrheit sind die schulen kurz davor zu kollabieren (aber darüber redet die grosse koalition nicht) und der kapitalismus wird nicht dahingehend befragt, was denn eigentlich gerade wirklich “systemrelevant” ist und was dienstleistungsbullshit, der auch ein halbes jahr ruhen kann, ohne dass es jmd auffällt, ausser dem virus, weil der kann sich dann weniger weiterverbreiten.

und ich kann die frage nach “wer soll das denn bezahlen, wenn leute nicht arbeiten?” nicht mehr hören – es gibt genug instrumente, um geld reinzuholen, von der reichensteuer, erbschaftssteuer, finanztransaktionssteuer usw. alleine cum-ex hat den bund 50 MILLIARDEN an steuern gekostet. nur mal so als ersten schritt. aber da hängt ja der bundesfinanzminister scholz mit drin, darum lieber pscht pscht und “alle zusammen”.

ich finde, es ist zeit für eine gegenhegemoniale debatte zu diesen punkten, weil sonst ist die neoliberale und neokonservative “cdu-spd-welt” nach corona so dominant, dass die gesellschaftspolitische linke sich sehr lang machen werden muss, um dagegen anzukommen. und da habe ich persönlich keinen bock drauf.

Corona-Update #10

Handlungsleitfaden für Alltag

Die Corona-Forscherin Isabella Eckert hat eine Reihe von Punkten zusammengetragen, die aus ihrer Sicht praktisch angemessen im Umgang mit Corona sind. Auch wenn mir diese an einigen Stellen noch zu unsozial sind bzw. irgendwie eine Kernfamilie “im Hintergrund” voraussetzen, fand ich die Übersicht doch ganz hilfreich –> TEXT

Privatverschuldung

Julia Wasenmüller hat für die Rosa-Luxemburg eine interessante Studie über die Folgen der ansteigenden Privatverschuldung während Corona geschrieben: “Dieser Text soll dazu anstoßen, grundsätzlicher über das aktuelle Schuldensystem nachzudenken, das Thema Privatverschuldung aus verschiedenen aktivistischen Praxisfeldern heraus zu beleuchten und in die jeweiligen politischen Agenden zu integrieren. In Argentinien haben Feminist*innen den Schuldenbegriff in den vergangenen Jahren vermehrt politisiert und in ihre Kämpfe aufgenommen. Ausgehend von den Leerstellen im deutschsprachigen Diskurs stellt sich die Frage, was sichtbar wird, wenn wir uns von der argentinischen Debatte inspirieren lassen. Können wir an Organisierungsimpulse und Praxisbeispiele anknüpfen und sie produktiv auf die aktuelle Situation in Deutschland beziehen? –> TEXT

Skepsis gegenüber dominanter Corona-Interpretation und -politik

Corona-Statistik: Corona bedeutet auch den Kampf um Daten und deren Interpretation. Wie hoch sind Sterberate, Infektionsrate – wie sinnvoll ist das Tragen von Masken? Das corona-skeptische Swiss Policy Research Institute hat hierzu statistikbasierte 30 Thesen veröffentlicht, die belegen sollen, dass die gegenwärtigen Eindämmungsmaßnahmen in die falsche Richtung gehen. Statt dessen setzt das SPR auf eine Immunisierungsstrategie. Maßgabe hierfür ist, dass deutlich weniger Leute direkt an Corona sterben als bisher angenommen und die negativen gesundheitlichen Folgen der Eindämmungsstrategie deutlich gravierender sind –> THESEN

Corona-Sterblichkeit: Rene Gottschalk, Leiter des Frankfurter Gesundheitsamts hat in einem Bericht die “Eindämmung” als ausschließlichen Schwerpunkt der bisherigen Corona-Bekämpfungsstrategie kritisiert. Diese führe zum Zusammenfall auch jener Strukturen in den Gesundheitsämtern, die eigentlich für die Bekämpfung der Pandemie zuständig sein sollten. Daneben berichtete Gottschalk, dass es seinen Daten zufolge im ersten Halbjahr keine Übersterblichkeit in den Deutschland gegeben hätte, und die Corona-Fälle der zweiten Welle ab August von deutlich weniger schweren Krankheitsverläufen und weniger Krankenhauseinweisungen bekennzeichnet gewesen seien –> ARTIKEL

Corona-Tests: Der Mikro- und Molekularbiologe Andreas Bermpohl hat in einem Interview auf die ungenügende Aussagekraft der vom Robert-Koch-Institut veröffentlichten Fallzahlen verwiesen, da diese nicht in Relation zur Anzahl der Tests dargestellt würden. Zudem seien die massenhaft verwendeten PCR-Corona-Tests nicht in der Lage, eine valide Aussage über die Anzahl von wirklich ausgebrochenen Corona-Krankheiten zu geben, bei denen die Person erkrankt und infektiös sei:

„Als Mikrobiologe und Molekularbiologe erscheint es mir wichtig, sachlich auf die Frage einzugehen, wie sicher denn der derzeit angewendete Corona-Test für den Nachweis einer Infektion mit SARS-COV 2 ist. Viele Menschen müssen hier ja auf Sachzusammenhänge vertrauen, die zum Teil nur Fachleuten zugänglich sind. […] Ein PCR-Test kann durch Abstriche diagnostisch nur den Verdacht auf eine Infektion darstellen, da er nur Teile eines Infektionserregers oder den Erreger an einem Ort wie etwa der Schleimhaut nachweist. Der Nachweis der bloßen Anwesenheit ist nicht ausreichend für die ’Tat’ : die Infektion von Epithelzellen des Atemtraktes. Und selbst bei ausgeführter ’Tat’ führt eine Infektion nicht zwangsläufig dazu, selbst als Individuum infektiös zu sein und auch nicht zwangsläufig zu einer Erkrankung des betroffenen Individuums.” –> INTERVIEW

Verschwörungstheorien

Ingar Solty hat einen sehr dichten und trotzdem sehr lesenswerten Beitrag über Verschwörungstheorien während Corona geschrieben, in dem er diese aus sozialpsychologischer und materialistischer Perspektive einordnet. Besonders gut fand ich dabei seinen Zugang, die Verschwörungstheorien auf ihren empirischen Gehalt zu befragen, der auch von ihm geteilt wird – also beispielhaft eine verschwörerische Bill Gates-Kritik mit einer linken Kritik am Einfluss von Bill Gates auf die globale Gesundheitspolitik abzugleichen.

Grundlage hierfür ist Soltys Definition von Verschwörungstheorien: “Bezüge zu Verschwörungstheorien erkennt man an wenigstens vier Elementen: 1. an der einfachen Personalisierung von gesellschaftlichen Verhältnissen (Gates, Soros, Rothschild), die oft antisemitische Untertöne und Botschaften vermittelt; 2. am manichäischen Denken – die Mainstream-Medien versus die Alternativmedien –, das keine Schattierungen erkennt, Faschisten, Liberale, Konservative, Sozialdemokraten, Kommunisten und Anarchisten nicht unterscheiden kann, die vereinzelten kritischen Stimmen in den Mainstream-Medien nicht wahrnimmt und auch zu den Richtungskämpfen in den bürgerlichen und linken Medien keine Einstellung hat; 3. daran, dass das Ergebnis der Diskussion für Vertreter*innen von Verschwörungstheorien von vornherein feststeht. Sie diskutieren nicht, um etwas hinzuzulernen, um eine andere Perspektive und andere Erfahrungen kennenzulernen, sondern als wüssten sie schon alles. Und schließlich erkennt man sie daran, dass sie sich 4. in der Regel mit Händen und Füßen gegen die Vorstellung wehren, man könne noch etwas ändern, schon gar nicht innerhalb des politischen Parteiensystems. Denn die Verschwörungstheorie, die individuell vor dem Computerbildschirm – anstatt in einer lokalen Parteiorganisation, Gewerkschaft, Antifagruppe etc. – erworben wurde, ist häufig auch eine Rechtfertigung für die eigene Inaktivität jenseits des ständigen Raunens und Rechthabens in den Kommentarfunktionen der sozialen Medien.” –> TEXT

Medien-Kiste #2

Defund the police

Maximilian Pichl hat bereits im August einen sehr interessanten Artikel über die “defund the police”-Debatte in den USA und ihre Rezeption in Deutschland geschrieben. Im Hinblick auf die aktuelle Polizeidebatte, rechte Chatgruppen und Rufe nach Rassismusstudien sehr lesenswert – genauso wie das Zitat von James Baldwin, das Pichl anführt: “„Ein Polizist ist ein Polizist. Und er könnte ein netter Mensch sein, aber ich habe keine Zeit das herauszufinden. Alles was ich weiß, er hat eine Uniform und eine Pistole. Das ist die einzige Weise, in der ich zu ihm in Beziehung stehe.“” –> TEXT

Linke Männlichkeit*

Das Y-Kollektiv hat unter dem Titel “Männlichkeit unter Beweis: Männer auf dem Weg zu sich selbst” einen 45-minütigen Dokumentarfilm über gegenwärtige Formen von Männlichkeit* gedreht, der neulich in der ARD lief. Ich habe bisher nur positives gehört…

Neues vom Rap

Die Berliner Rapperin Lena Stoehrfaktor hat einen neuen Track veröffentlicht: “Zuhause im Nebel (prod. von Tapete)”