Linke Begriffe: “Critical Westness”

Heute sind die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen mit absehbaren Wahlerfolgen für die rechtsradikale AfD. Als westdeutsch Sozialisierter ohne Ostverwandtschaft ist es immer etwas seltsam, über “den Osten” zu publizieren: Einschätzungen drohen voll von Vorurteilungen und “random stories” zu sein, die mensch irgendwo aufgeschnappt hat – oder sich aus dem weiterhin stark westdeutsch dominierten öffentlichen Diskurs in Deutschland zu speisen, der den Osten abwechselnd als “pleite” (ökonomisch gescheitert) oder “rechts” (politisch gescheitert) sieht.

Diese westdeutsch zentrierte Sichtweise unterschlägt die eigene politische Einbindung in die polit-ökonomische Entwicklung der DDR und der ostdeutschen Bundesländer, und ignoriert darüber hinaus die Konflikte und Widersprüche der eigenen westdeutschen Geschichte – sowohl im Hinblick auf die brüchige und umkämpfte kapitalistische Entwicklung als auch die Kontinuität rechter Bewegungen und Einstellungsmuster in der breiten Bevölkerung.

Um dem etwas entgegenzutreten, habe ich mich in den letzten Tagen etwas in das Thema “Critical Westness” eingelesen, und möchte im Folgenden knapp auf Quellen und Aussagen hinweisen, die ich für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema für weiterführend halte.

Critical Westness 1: Begriffsbildung

Der Begriff der “Critical Westness” versucht, innerhalb des Ost-West-Dialogs die Rolle und Geschichte Westdeutschlands stärker zu thematisieren, um dessen vermeintliche “Allgemeinheit” oder “unsichtbar-normale Sprecher*innen-Position” aufzuheben, aus der heraus dann “der Osten” angeblich “neutral” bewertet werden soll.

“Critical Westness” ist dabei an “Critical Whiteness” angelehnt, eine postkoloniale Perspektive, die das oftmals rassistische Sprechen über Schwarze Menschen durch weisse Menschen durch das Hinterfragen “weisser Normalitäten” kontextualisieren und kritisieren möchte.

“Critical Westness” als Begriff wurde 2020 von dem ostdeutsch sozialisierten Autor und Sozialwissenschaftler Heiner Schulze gebildet:

“Im Kern thematisiert er die unreflektierte und meist unsichtbare Normsetzung westdeutscher Perspektiven. Gelenkt wird hierdurch der Blick auf die unhinterfragte, westdeutsche Norm im medialen und politischen Diskurs der Bundesrepublik, die als solche aber nie benannt wird.

Statt dem Fokus einer (meist) defizitären Perspektive auf den Osten zu folgen, soll der Blick zurück auf den Westen gelenkt werden. Die Wende und der Postsozialismus sind nicht nur eine Sache des Ostens: die Wende, deren Folgen und der Diskurs darüber sind immer auch eine Wende des Westens.

Ohne Einbeziehung und Reflexion von Westdeutschland als nicht hinterfragte Norm ist eine ganzheitliche Debatte über Wende und Postsozialismus, ‚den Osten‘ oder Gesamtdeutschland kaum möglich.”

Den ganzen Text von Schulze findet ihr hier [–> LINK]

Critical Westness 2: Begriffsdiskussion

Sehr lesenswert fand ich in diesem Kontext das Interview von Heiner Schulze mit der ostdeutsch sozialisierten, Schwarzen Sozialwissenschaftlerin und Autorin Katharina Warda, die selbst 2020 einen viel beachteten Essay mit dem Titel “Der Ort, aus dem ich komme, heißt Dunkeldeutschland” [–> LINK] verfasst hat, der sich mit ihrer Sozialisierung als Schwarze Person in der DDR und in Ostdeutschland beschäftigt.

Das Interview zeigt erstens, wie wichtig eine Perspektive von “Critical Westness” im Sinne einer Hinterfragung und Zurückdrängung westdeutscher Perspektiven und einer grundlegende Öffnung “ostdeutscher” Sprachräume ist. Es zeigt zweitens aber auch, wie fragwürdig die Anlehnung des Critical Westness-Begriffs an jenen der “Critical Whiteness” und damit verbundener Kolonisierungsvorstellungen von der “Wende” 1990 und einer Gleichsetzung von kolonialen Gewaltverbrechen mit der westdeutschen, ökonomischen Landnahme nach der “Wende” ist. Drittens wurde für mich deutlich, dass das “Erzählen über den Osten” nicht in der Opposition zum Westen aufgeht, sondern innerhalb “ostdeutscher Perspektiven” entlang von Fragen nach Geschlecht, Rassifizierung, politischer Einstellung zur DDR-Staatsführung u.v.m. genauer hingeschaut und binnendifferenziert werden muss.

So werde zum Beispiel “viel zu wenig besprochen, wie unterschied­lich die Ostdeutschen die Wende erlebt haben. Nicht alle waren von Arbeitslosigkeit betroffen, nicht alle mussten neue berufliche Lebenswege einschlagen, nicht wenige wollten raus aus ihren vorherigen Strukturen und haben neue Wege eingeschlagen, nicht wenige sind aufgestiegen, andere wiederum haben drastische Abstiege erlebt. Un­term Strich waren die biografischen Verläufe eben unter­schiedlich und haben zum Teil auch Möglichkeiten eröff­net.” (Katharina Warda).

Hier das gesamte Interview [–>LINK]

Critical Westness: Begriffsdiskussion II

In ähnlicher Form sensibilisiert die Autorin Nelly Tügel für immanente Probleme in der Critical Westness-Diskussion. Ausgehend von Studien, die belegen, dass Ostdeutsche und Leute mit Migrationshintergrund ähnlichen Abwertungsstrategien ausgesetzt sind, beharrt sie zum einen darauf, rassistische und anti-ostdeutsche Abwertungen dennoch auf Grund unterschiedlicher Erfahrungen und Begründungsstrategien nicht gleichzusetzen, sondern dieses im Rahmen von intersektionalen Analysen sensibel miteinander zu verknüpfen. Zum anderen betont sie, dass die Sichtbarmachung und in gewisser Form auch Abspaltung westdeutscher Perspektiven durch eine Critical-Westness-Perspektive nicht dazu führen dürften, dass Ost- und West-Biographien als gegensätzlich oder einander entgegenstehend betrachtet werden:

“Natürlich sind Rassismus und die Verächtlichmachung ostdeutscher Herkunft nicht dasselbe. Begrenzt ist die Analogie schon, weil sie Klassenzugehörigkeiten und andere Unterschiede innerhalb der beiden Gruppen aus dem Blickfeld geraten lässt, aus denen sich wiederum ganz andere Gemeinsamkeiten ableiten ließen.

Der frühere Kali-Kumpel aus Bischofferode hat nicht nur mit dem pensionierten türkischen Stahlarbeiter aus Duisburg viel gemein, sondern qua sozialer Herkunft und Berufserfahrung auch mit dem „biodeutschen“ Ex-Bergmann aus Bottrop.

Wer wiederum als einer von Zehntausenden Vertragsarbeitern im Osten lebte, 1990 ohne Aufenthaltstitel dastand und die Pogrome nach der Wende miterlebte, teilt die Erfahrung existenzieller Angst mit Geflüchteten im Westen.

Eine Migrantin mit Kopftuch wird, was das Leben mit Klischees angeht, eher in dem sächselnden Bornaer einen Leidensgenossen finden als in dem Künstler aus Ost-Berlin.

Diese Differenzierungen sind nötig, um nicht grob über Lebensrealitäten hinwegzugehen.”

Den ganzen Artikel findet Ihr hier [–> LINK].

Critical Westness: Begriffsdiskussion III

Demgegenüber betonen die Autorin Jana Hensel und die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan (die oben erwähnte Studie über den Vergleich von rassistischen und anti-ostdeutschen Abwertungsstrategien erstellt hat) in einem Gespräch noch einmal den produktiven Mehrwert des Critical Westness Begriffs. So eröffne dieser die Einsicht, nicht nur breitenwirksam und öffentlich über rechte Strukturen und Einstellungen in den ostdeutschen Bundesländern zu sprechen, sondern genauso über rechte Strukturen in Westdeutschland vor und nach der Wende:

Interviewer*in: “Mit der Diskussion über Hanau weisen Sie darauf hin, dass das Rassismus-Problem kein rein ostdeutsches ist. Hanau ist ein erschreckendes Beispiel für westdeutschen Rassismus. Diskutieren wir das als Gesellschaft zu selten?

Jana Hensel: “Der Verlauf dieses Jahres mit den Diskussionen nach Hanau, den “Black Lives Matter”-Demonstrationen und der Debatte über Rassismus in der Polizei haben gezeigt, dass wir den strukturellen Rassismus in den westdeutschen Bundesländern noch nie so stark diskutiert haben wie jetzt. Über Rassismus im Osten haben wir zwar noch längst nicht ausreichend diskutiert, aber über dieses Thema haben wir uns spätestens nach 2015 immer wieder gebeugt. Wir suchen nach Wegen, wie man dieses Thema nun in einer anderen, größeren, umfassenderen Perspektive betrachten könnte. Bisher glaubten viele, dass der Osten der rassistischere Teil unserer Gesellschaft ist. Ja, Rassismus artikuliert sich im Osten offener, stärker, gewaltvoller. Aber im Westen gibt es andere, eigene rassistische Strategien. Die Verbindungen zwischen beiden Realitäten zu suchen, betrachte ich als eine der wichtigsten Herausforderungen der Gegenwart.

Das ausführliche Gespräch findet ihr hier [–> LINK]