Gegen den Rechtsruck #01

Ich habe mich entschieden, eine neue Kategorie auf diesem Blog einzuführen, und zwar “Gegen den Rechtsruck”, die sich mit rechten Entwicklungen primär in Deutschland, aber auch global, beschäftigt.

Kein Geld für AfD-nahe Stiftung

Gute Nachrichten: nachdem die AfD die Gründung einer eigenen politischen Stiftung angekündigt und unter dem Namen “Erasmus-Stiftung” umgesetzt hat, und nun Gelder aus den Stiftungstöpfen für politische Bildungsarbeit und Forschung beantragen wollte, gibt es jetzt doch einen Gesetzesentwurf für ein neues Stiftungsgesetz, nach dem die AfD-nahe Stiftung auf Grund ihrer rechts-verfassungsfeindlichen Ausrichtung keine finanziellen Mittel für rechtsradikale Bildungs- und Wissenschaftsarbeit bekommen würde. Ich hoffe, die Gesetzesformulierungen halten etwaigen Klagen der AfD stand. [–> LINK ZUR NACHRICHT]

Nachbereitung und Blick nach vorne: AfD-Wahlerfolge und die Wahlen 2024

Ja, letztes Wochenende war wohl der Höhepunkt der bisherigen Entwicklung der AfD in Deutschland. Drittstärkste Partei bei den Landtagswahlen in Bayern mit 14,6%, zweitstärkste in Hessen mit 18,4% – was am Wahlabend folgte, war ein rechtes Getöse über die eigene Stärke und die Berechtigung der eigenen rassistischen Diskurse und Politikansätze.

Das Problem AfD hat sich jedoch mit den Landtagswahlen in Hessen und Bayern nicht erledigt, sondern wird im kommenden Jahr bei der Europawahl und den drei Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen mit erneuter Wucht kommen, wenn sich bis dahin nicht grundlegende Dinge ändern.

Ich habe daher nachgeschaut, wie es bei den Wahlen im kommenden Jahr aussieht. Die aktuellen AfD-Prognosen und jeweiligen Zuwächse – zwischen 6 und 12% gegenüber den jeweiligen letzten Wahlen – stechen bitter hervor. Im Ergebnis bedeutet das, dass die AfD in Brandenburg und Thüringen mit großem Vorsprung auf Platz 1 liegt, bei der Europawahl und der Wahl in Sachsen liegt sie mit 3% Rückstand auf Platz 2 hinter der CDU.

– Europawahl (im Juni): 1.) CDU 26%, 2.) AfD 23% (+12%) [–> PROGNOSE]

– Sachsen (im Sept): 1.) CDU 33%, 2.) AfD 30% (+5,9%) [–> PROGNOSE]

– Brandenburg (im Sept): 1.) AfD 32% (+8,5%), 2.) SPD 20% [–> PROGNOSE]

– Thüringen (im Sept): 1.) AfD 32% (+8,6%), 2.) Linkspartei 22% [–> PROGNOSE]

Zum Vergleich: für die Linkspartei sieht es zwar je nach Bundesland unterschiedlich aus – sie verliert aber bei jeder Wahl im Verhältnis zur vorherigen Wahl. Konkret heisst das: Europawahl: 5% (-0,5% zur letzten wahl); Wahl in Sachsen: 9,3% (-1,1%); Brandenburg: 8% (-2,7%); Thüringen: 22% (-9%).

Es bleibt abzuwarten, wie außerparlamentarisch und im parlamentarischen Spektrum mit den sich abzeichnenden, massiven Wahlerfolgen der AfD umgegangen werden kann und soll.

Rechte Chatgruppen bei der Polizei und der NSU 2.0

Polit-Comedy in Doitschland ist ja mal so mal so – die Redaktion von Jan Böhmermanns “ZDF Magazin Royale” hat sich jetzt jedoch in einer Doppelfolge mit rechten Chatgruppen bei der Polizei (Folge 1) und der Beteiligung von rechten Polizist*innen am Verfassen von Morddrohungen an linke Personen des öffentlichen Lebens unter dem Namen “NSU 2.0.” (Folge 2) beschäftigt und bemerkenswerte Dinge dazu veröffentlicht.

Folge 1

Hierzu zählt im Anschluss an Folge 1 der Chatverlauf einer rechten Chatgruppe bei der Frankfurter Polizei mit dem Titel “Itiotentreff”, die im Netz eingesehen werden kann. Von mir gleich eine Triggerwarnung: viele Dinge sind brutal, entmenschlichend und einfach ätzend – ich finde es aber wichtig, solche Dinge zur Kenntnis zu nehmen [–> LINK ZUM CHATVERLAUF].

Folge 2

In Folge 2 äußert Böhmermann den Verdacht, dass die ersten Briefe des “NSU 2.0” nicht von einem bereits dafür verurteilten Informatiker aus Berlin, sondern von einem Polizisten des selben Frankfurter Polizeireviers verfasst wurden. Als Reaktion darauf hat die Staatsanwaltschaft Frankfurt Ermittlungen gegen den Polizisten aufgenommen [–> LINK ZUM ARTIKEL].

Auch wenn dieses als politischer Rechercheerfolg von Böhmermanns Redaktion gesehen werden muss, sagt es doch viel über die Ermittlungswilligkeit der Staatsanwaltschaften gegen rechte Netzwerke bei der Polizei aus. Denn die Opfer des NSU 2.0 hatten bereits während des Prozesses darauf hingewiesen, dass die These von einem “Einzeltäter außerhalb der Polizei” nur schwer aufrecht erhalten werden könne, da dann die Frage ungeklärt sei, wie dieser an die Adressdaten der Betroffenen gelangt sei, die ja über Polizeicomputer im Frankfurter Polizeirevier abgerufen worden waren. Im Kern erhärtet sich so die These eines, fest in Frankfurter Polizei verankerten rechten Netzwerks, dass systematisch Adressdaten von linken Personen abgerufen und dann Morddrohungen an diese verschickt hat.

Rechte Netzwerke kommerziell unterlaufen

Es ist wahrscheinlich momentan nicht mehr als ein Stöckchen zwischen die Beine der Rechten, aber trotzdem gut: die linke Kampagne “Laut gegen Nazis” sichert sich gerade die Markenrechte für rechte, abgekürzte Slogans auf T-Shirts und mahnt dann rechte Versandhandels-Platformen wegen Verletzung der Markenrechte ab. Gibt dann wohl mehr Geld für Antifa e.V. 😉 [–> LINK ZUM ARTIKEL]

Der brutale Angriff der Hamas auf Israel – linke Stellungnahmen

Am 7. Oktober hat die palästinensische Bewegung Hamas verschiedene militärische und zivile Ziele in Israel mit Raketen beschossen und mit bewaffneten Kämpfern angegriffen und überfallen. Der Angriff war so massiv, dass Stand heute (11.10.23) über 1.200 Israelis getötet und über 2.700 verletzt sind – wobei die Hamas-Kämpfer an vielen Orten insbesondere gegenüber der Zivilbevölkerung äußerst brutal vorgegangen sind.

Als Reaktion hat die israelische Regierung eine breite Mobilmachung ihrer Armee vorgenommen, ihrerseits schon 1.000 bewaffnete Kämpfer*innen getötet und den Gaza-Streifen abgeriegelt und damit weitgehend von Essen, Trinken und Energie abgeschnitten. Hier droht eine humanitäre Katastrophe.

Im folgenden dokumentiere ich eine Reihe von deutschsprachigen linken Analysen und Stellungnahmen zum Angriff der Hamas:

New Israel Fund: Trauer um die Opfer des Hamas-Angriffs und Stärkung der inner-israelischen Solidarität

Der Angriff der Hamas fällt in einen jahrzehntelangen politischen Nahost-Konflikt, in dem Israel als Staat eine zentrale Rolle spielt. Die politischen Konfliktlinien verlaufen dabei jedoch nicht – wie oftmals angenommen und medial behauptet – primär zwischen Gruppen und Unterstützer*innen der israelischen und palästinensischen Staatsführung, sondern primär zwischen friedenspolitischen und kriegsorientierten Kräften auf beiden Seiten.

Entsprechend äußert sich z.B. der “New Israel Fund”, eine links-liberale israelische NGO zum Hamas-Anschlag dahingehend, dass dieser neben den zu betrauernden Toten jetzt auch die politische Aufgabe umfasse, “Solidarität zwischen Juden und Palästinensern in Israel zu stärken und jeder Art von Extremismus, Rassismus oder Gewalt zwischen den Gemeinschaften entgegenzuwirken”. [–> LINK ZUR STELLUNGNAHME]

Konkret bedeutet dies, dass nun zum einen die Opferfamilien versorgt und die Toten bestattet werden müssten, und im gesamten Land eine psychologische Versorgung für die Aufarbeitung des Angriffsschocks organisiert werden müsste – zum anderen aber aktiv gegen die sich im Internet formierende Hassrede gegen Araber*innen und Muslime angegangen werden müsste, um gewalttätige Racheaktionen zu verhindern [–> LINK ZUM AKTIONSPLAN]

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschist*innen (VVN/BdA): Israel als Staat der Holocaustüberlebenden und gegen eine Gewaltspirale

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschist*innen verurteilt die Gräueltaten der Hamas, verweist auf das geschichtliche Erbe Israels als Zufluchtsort jüdischer Menschen nach dem Holocaust und wehrt sich gegen die sich abzeichnende Gewaltspirale: “Als Vereinigung, die auch von jüdischen NS-Verfolgten gegründet wurde, möchten wir außerdem daran erinnern, dass noch heute circa 150.000 Menschen in Israel leben, die einst die Shoah überlebten und Zuflucht in Israel fanden. Wir hoffen, dass alle diese schreckliche Zeit überstehen. […]

Wir warnen vor der Gewaltspirale, die sowohl für die israelische als auch für die palästinensische Bevölkerung nur weitere Katastrophen bereithält und appellieren an die politischen Verantwortlichen, eine gewaltfreie Antwort auf den schrecklichen Terror zu finden. Gaza dem Erdboden gleichzumachen und dabei hunderte Zivilist*innen zu töten, bringt weiteres unvorstellbares Leid mit sich und befeuert die Gewaltspirale. Wir warnen auch vor rassistischen Reflexen, die arabische und palästinensische Menschen mit Antisemitismus gleichsetzen und von rechten Akteur*innen hier in Deutschland für ihre Zwecke missbraucht werden.” [–> LINK ZUR GANZEN STELLUNGNAHME]

medico international: Wider die Entmenschlichung

Die internationalistisch ausgerichtete NGO “medico international” hat einen sehr guten Artikel aus humanitärer und ziviler Perspektive auf den Angriff der Hamas und dessen Folgen für eine menschenrechtsbasierte Solidaritätsarbeit geschrieben. Die Bündnispartner*innen der NGO kommen sowohl aus Israel als auch aus Palästina, und sind jeweils schwer getroffen: durch die Massaker der Hamas die einen, durch die Vergeltungsaktionen der israelischen Armee die anderen. Eine Versöhnungsperspektive muss unter diesen kriegerischen Umständen, die feindselig darauf drängen, die jeweilige Gegenseite zu entmenschlichen, mit allen Mitteln aufrechterhalten bleiben:

“Jetzt, in diesen düsteren Stunden, sprechen wir mit unseren Partner:innen in der Region. Die einen trauern um die Opfer der Massaker der Hamas, andere liegen mit ihren Familien in Gaza unter ihrem Bett, weil sie bombardiert werden. Alle haben Angst um ihre Familien, um sich selbst und um ihre Freund:innen innerhalb und außerhalb der sie umgebenden Grenzen. Alle haben Angst vor dem, was noch passieren wird. Wir auch.

Angesichts der Schrecken auf beiden Seiten der Grünen Linie bleibt uns in diesem Moment nicht viel mehr, als unseren Partner:innen in Palästina und Israel beizustehen. Unsere Solidarität und Anteilnahme gilt in diesen Tagen mehr denn je der Zivilbevölkerung in Israel und Palästina, ihrem Wunsch und ihrem Recht auf ein Leben in Frieden und ohne Angst.” [–> LINK ZUR STELLUNGNAHME]

Monroy: Gegen eine pauschale Kriminalisierung der Palästina-Solidarität

Matthias Monroy betont in einem kurzen Kommentar für das “Neue Deutschland”, dass es sich beim Angriff der Hamas um die Aktion einer spezifischen politischen Gruppierung handelt, die dabei war, an Einfluss in den Palästinenser-Gebieten zu verlieren: “Der Großangriff der Hamas auf Israel war kein palästinensischer Aufstand, sondern die Aktion einer militärischen islamistischen Organisation, deren Rückhalt unter der Bevölkerung in Gaza weiter abnahm.”.

Vor diesem Hintergrund warnt Monroy vor einer pauschalen Verurteilung und Kriminalisierung aller palästina-solidarischer Gruppen in Deutschland – da diese sich in der Mehrzahl auf andere Akteure als die Hamas als politische Bündnispartner*innen beziehen. Diese Mehrheit nun mit Hamas-solidarischen Gruppen in einen Topf zu werfen, würde unterschiedliche politische Ziele innerhalb der palästinensischen Soli-Bewegungen verkennen, und wäre ein symbolischer Erfolg für die Hamas, die sich auf dieser Grundlage als Gesamtrepräsentant “der Palästinenser” profilieren könne. (–> LINK ZUM KOMMENTAR)

Staatliche Repression und Überwachung #3

Innere Sicherheit in der BRD: Kriminalitätskonstruktionen im TV

Regina Schilling hat unter dem Titel “Diese Sendung ist kein Spiel. Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann” für das ZDF eine sehr sehenswerte 90-minütige Doku über die TV-Sendung “Aktenzeichen XY” produziert, die in der BRD über lange Zeit eine wichtige Referenz für den Diskurs über Innere Sicherheit war.

Die neu produzierte Doku hinterfragt anhand der ausgestrahlten TV-Fälle die Vorstellungen von Innerer Sicherheit ab den 1960er Jahren in der BRD: was, wer oder welche Entwicklungen haben die Bürger*innen und insbesondere Frauen laut der XY-Sendung besonders bedroht? Wie konnten sich Bürger*innen demzufolge “selber schützen”? Und was waren tendenziell “selbstgefährdene Handlungen” – insbesondere von Frauen – die diese Sendung unterschwellig anprangerte? Doku bitte gerne schauen [–> LINK ZUR SENDUNG]

Partnerschaftliche Gewalt gegen Frauen in Partnerschaften

Während die konservative Debatte um sexualisierte Gewalt ihren Fokus auf sexualisierte Übergriffe im öffentlichen Raum und “unbekannte”, meist rassifizierte “Täter” legt, die von den Sicherheitsbehörden verfolgt werden müssten, verschwindet so partnerschaftliche sexualisierte Gewalt oft unter dem Deckmantel des “Privaten”. Dabei sprechen allein die in Deutschland gemeldeten Fälle partnerschaftlicher patriarchaler Gewalt eine deutliche andere Sprache.

Im Jahr 2022 wurden laut Zeit Online 157.000 Fälle partnerschaftlicher Gewalt gemeldet: 40 Prozent von Ex-Partner*innen, 60 Prozent von aktuellen Partner*innen. Die patriarchale Dimension ist dabei eindeutig: die Opfer waren zu 80% Frauen, die Tatverdächtigen zu 78% Männer.

Die führt zu folgenden gegenwärtigen Verhältnissen in Deutschland: “Alle 45 Minuten wird statistisch gesehen in Deutschland eine Frau Opfer vollendeter oder versuchter gefährlicher Körperverletzung durch Partnerschaftsgewalt. Jeden dritten Tag stirbt eine Frau durch Gewalt ihres Partners oder Ex-Partners. Diese offiziellen Zahlen und Statistiken zeigen jedoch nur einen Ausschnitt. Expertinnen gehen davon aus, dass das sogenannte Dunkelfeld bei häuslicher Gewalt um ein Vielfaches größer ist” [–> LINK ZUM ARTIKEL]

Rechte Strukturen in der Polizei der BRD

Anlässlich der immer wiederkehrenden vermeintlichen “rechten Einzelfälle” in der deutschen Polizei lohnt es sich, eine vertieften Blick auf die Geschichte der Polizei in Deutschland seit Anfang des 20. Jahrhunderts zu werfen, also in Weimar, dem deutschen Nationalsozialismus und der BRD der Nachkriegsperiode. Der Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr widmet sich der Frage autoritärer Bedingungen und rechter Strukturen in der Polizei in einem für die Zeitschrift “CILIP – Bürgerrechte und Polizei” verfassten Artikel von 2009 mit dem Titel “Dunkle Vergangenheit, lichte Gegenwart – Vergangenheitspolitik der bundesdeutschen Polizei”.

Während die Bundesregierung 2001 noch auf einem fundamentalen Bruch zwischen NS-Polizei und BRD-Polizei beharrte, und behauptete: „Das BKA hat keine nationalsozialistische Vergangenheit. Es ist erst im Jahr 1951 gegründet worden” – zeichnet Narr sehr anschaulich die strukturellen, weltanschaulichen und insbesondere beim Aufbau der deutschen Polizei und Geheimdiensten nach 1945 fortbestehenden personellen Kontinuitäten zum NS-Sicherheitsapparat nach. [–> LINK ZUM ARTIKEL]

Was ist Abolitionismus? Part I

Seit ein paar Jahren wird das Konzept des Abolitionismus immer prominenter, sowohl als Bezugspunkt für anti-repressive Bewegungen als auch wissenschaftliche Debatten. Der Deutschlandfunk hat jetzt eine relativ gut zu lesende Zusammenfassung veröffentlicht, die sich mit der antikolonialen Begriffsgeschichte seit Ende des 19. Jahrhunderts bis zur heutigen Infragestellung des rassistisch geprägten Gefängnissystems beschäftigt. Auch wenn bei mir viele Fragen bleiben, finde ich die grundsätzliche Stoßrichtung des Abolitionismus und seine Infragestellens eines Systems des Strafens und Herrschens in einer hochgradig vermachteten Gesellschaft, die jedoch an sich meist nicht hinterfragt wird, sehr gut. [–> ZUSAMMENFASSUNG]

Was ist Abolitionismus? Part II

In diesem Sinne hat die Sozialwissenschaftlerin Vanessa E. Thompson als prominente Vertreterin des Abolitionismus-Ansatzes auch ein lesenswertes und prägnantes Interview gegeben, das auf zentrale, immer wiederkehrende Fragen an den politischen Ansatz des Abolitionismus antwortet [–> HIER].

Ich habe das Ende des Interviews stark gekürzt und kopiere es als Zitat hier rein:

Wie würden Konflikte in einer Gesellschaft ohne Polizei gelöst?

Dem Abolitionismus geht es nicht einzig um die Abschaffung des Bestehenden, sondern vor allem um die Schaffung von etwas anderem. Für die aktuelle Situation gilt: Gefängnisse, Grenzen, Polizei müssen weg, aber auch die Produktionsform, die auf diese Systeme angewiesen ist.

Aber für einen neuen Umgang mit Konflikten und Gewalt braucht es den erwähnten Aufbau sozialer, idealerweise basisdemokratischer Infrastruktur. […] Trotz allem würde es auch in einer abolitionistischen Welt noch ein gewisses Mass an Gewalt geben.

Wie würde mit dieser Gewalt umgegangen?

Grundsätzlich zeigt sich, dass nichtpolizeiliche Methoden viel besser sind, um Menschen aus Gewaltmilieus herauszuholen. […] Es geht darum, Gewaltspiralen anzugehen, anstatt sie einfach weiterzuführen. Das sind langwierige Prozesse, die auch mit Scheitern verbunden sein können. Solche Praktiken werden aber weltweit schon vielerorts gelebt – zum Beispiel mit indigenen Ansätzen, auf die sich Abolitionist:innen beziehen. Diese können die Art und Weise, wie wir gesellschaftlich zusammenleben, radikal transformieren.”

Linke Medienkiste #41

Antifaschismus

An den letzten zwei Wochenenden war der Parteitag der AfD in Magdeburg. Jetzt haben sich mit dem Auschwitz-Komitee, dem Comité International de Dachau und der Lagergemeinschaft Dachau Opferverbände des deutschen Nationalsozialismus öffentlich zu Wort gemeldet, und sich bestürzt über die weitere Rechtsradikalisierung der AfD und ihre steigenden Sympathiewerte in der deutschen Bevölkerung (zuletzt 21% bundesweit) gezeigt:

“Das sei für Überlebende der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager zutiefst verstörend und hochgradig alarmierend, hat Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Auschwitzkomitees, epd zufolge am Freitag in Berlin erklärt. Die AfD, so Heubner, habe sich endgültig aus der “bürgerlichen Tarnungszone” verabschiedet und verfolge eine “unverhohlen rechtsextreme und völkische Agenda”.” [–> LINK ZUM ARTIKEL]

Digitale kapitalistische Überwachung

Wie netzpolitik.org berichtet, hat der Videotelefonie-Dienst Zoom im Mai 2023 seine Allgemeinen Geschäftsbedingungen geändert, und sich die weltweiten Rechte an allen Daten gesichert, die mit ihren Videoanrufen verbunden sind. Diese beträfe “alle „Telemetriedaten, Produktnutzungsdaten, Diagnosedaten und ähnliche Inhalte oder Daten, die Zoom in Verbindung mit Ihrer Nutzung bzw. der Nutzung der Dienste oder Software durch Ihre Endbenutzer erhebt oder generiert“.

Wozu das? Zoom hat schon seit längerem eine Profitkrise, und wird jetzt versuchen, diese Daten kommerziell weiterzuverwerten – insbesondere “um damit Anwendungen der sogenannten Künstlichen Intelligenz (KI) zu trainieren. Dies führt das Unternehmen im gleichen AGB-Abschnitt ausdrücklich aus.”. Eine vertrauliche Kommunikation ist damit nicht mehr gesichert, wie u.a. bereits von Anwält*innen öffentlich bestätigt wurde. [–> LINK ZUM ARTIKEL]

Feminismus und Patriarchat

Bereits mehrmals wurde mir der Kinofilm “Geschlechterkampf. Das Ende des Patriarchats”, empfohlen, in dem es am Beispiel einer Schauspielerin Anfang 40 um patriarchale Rollenbilder und Gesellschaftsstrukturen und feministischen Widerstand dagegen geht. U.a. mit Auftritten von Teresa Bücker, Michaela Dudley und Lady Bitch Ray. Den Trailer findet ihr hier drunter, eine geschriebene Filmzusammenfassung findet Ihr hier [–> LINK]

Migration und Festung Europa

DIe ARD-Sendung Monitor hat den Tod von mehreren hunderten Geflüchteten auf einem Boot vor der griechischen Küsten im Juni 2023 rekonstruiert. Unterlassene Hilfeleistung durch europäische Polizei- und Seenotrettungsbehörden und rücksichtslose und bewusste sog. “push-backs” (Zurückdrängen aufs offene Meer, weg von Küsten) durch die griechische Küstenwache – this is what Europe looks like.

Oder in den Worten der Monitor-Redation über ihren redaktionellen Beitrag: “Wir haben mit Überlebenden gesprochen, Positionsdaten von Schiffen und Vernehmungsprotokolle ausgewertet. Dabei wird deutlich: Die Behörden haben viel Zeit verstreichen lassen bis sie dem sinkenden Boot zu Hilfe kamen. Sie haben Notrufe ignoriert und Rettung zu spät in Gang gesetzt. Die griechische Küstenwache könnte das Kentern am Ende sogar mit verursacht haben.”

Linke Medienkiste #40

Aufwachsen im Osten

Der MDR hat eine sehr sehenswerte, zweiteilige Doku (insgesamt 90 min) über das Aufwachsen im Osten nach der Wende produziert. Titel: “Generation Crash – Wir Ost-Millenials”. Aus der Auskündigung: “Wie war das Erwachsenwerden in Ostdeutschland in den Neunziger- und Nullerjahren? Mehrere Zeitgenossen erzählen ihre persönliche Geschichte zwischen rechter Gewalt aber auch neuen Freiräumen.”.

Einer der seltenen Beiträge zu Ost-Biographien, die für viele Wessi-Linke eigentlich Standard sein müsste, zu schauen – so wenig, wie über Ost-Sozialisierung im Alltag gesprochen wird. Dazu mit vielen subkulturellen Interviewpartner*innen, was mir den Einstieg zumindest erleichtert hat [–> LINK ZUR DOKU]

Fussball für Alle

Die Kommerzialisierung des Fussballs geht weiter, und die Preise für Pay-TV steigen rasant. Was als öffentliches Ereignis gestartet ist, ist nun auf Grund hoher Eintrittspreise ein Live-Event für die Mittelklasse: Fussball. Wer sich diesen live nicht leisten konnte, konnte eine Zeit noch einen Pay-TV-Sender für zu Hause abonnieren oder in eine Kneipe gehen, und dort für den Preis von 1-2 Getränken ein Spiel schauen. Jetzt steigen aber auch dort die Preise, so dass Fussball-Kneipen dieses Angebot kaum noch machen können. Die Zeitschrift “11 Freunde” hat dazu einen Kneipenwirt aus Bremen interviewt und nach den Gründen für diese Entwicklung gefragt:

Wer trägt Ihrer Mei­nung nach die Ver­ant­wor­tung für diese Ent­wick­lung?
Ich glaube, das ist ein biss­chen wie mit der Wirt­schaft in Zeiten des Kli­ma­wan­dels. Da gibt es viele Betei­ligte, die am bis­he­rigen System so gut ver­dienen, dass es jede Trans­for­ma­tion fast unmög­lich macht. In Bezug auf den Pro­fi­fuß­ball in aller­erster Linie natür­lich die Ver­bände FIFA, UEFA und die DFL.” [–> LINK ZUM GANZEN INTERVIEW]

Kapitalismus und Klimakrise

Von mehreren Seiten schon empfohlen: das “jung und naiv”-Interview mit dem Wirtschaftshistoriker Adam Tooze über Kapitalismus und Klimakrise. Wirklich sehr empfehlenswert, weil er in der Lage ist, sprachlich und inhaltlich Dinge verständlich runterzubrechen und super zu erklären. Leider dauern die “jung und naiv”-Videos immer ewig, das Interview mit Tooze über 3h, aber es reicht ja, durch das Video zu skippen, die für einen sinnvollen Abschnitte rauszubrechen und zu schauen.

#metoo: Tatort Universität

Olivia Samnick und Friederike Röhreke haben für das ZDF eine sehenswerte Doku (29 min) über sexuelle Belästigungen und Abhängigkeiten im deutschen Universitätssystem produziert. Anlass: “Erniedrigungen, Mobbing, sexualisierte Übergriffe – im Wissenschaftsbetrieb häufen sich Fälle von Machtmissbrauch.”. Der Film interviewt Betroffene und politisch Verantwortliche und sucht nach Lösungen für diese unhaltbaren Zustände. [–> LINK ZUM FILM]

Sexismus ist 1 Arschloch. Zur strukturellen Diskriminierung des Frauen-Fussballs am Beispiel der WM 2023

Ich schaue nun seit mehr als 1 Woche die Frauen-WM und bin wirklich begeistert. Coole Spiele, das Niveau ist nun auch in der Breite der teilnehmenden Teams auf Top-Niveau – technisch, taktisch, körperlich alles top: es macht voll Spaß zuzugucken.

Gleichzeitig wird in der zunehmend von Frauen* gestalteten Berichterstattung in den Öffentlich-Rechtlichen deutlich, dass der Frauen-Fussball über viele Ex-Spielerinnen auch eine Reihe von “Expertinnen” herausgebildet hat, die sich voll gut auskennen und ausdrücken können.

“Born for this”, eine Langzeit-Doku-Serie über das doitsche Frauen-Team in der ZDF-Mediathek (–> LINK) zeigt, dass die jetzigen jüngeren Spieler*innen richtige Fussball-Atzen sind, die abwechselnd rumhoolen, kicken und Fussi-Sprüche machen. Was Atzen halt so machen… 😉

In der Elite hat sich der Frauen-Fussball damit so professionalisiert, dass mensch eigentlich von Gleichberechtigung sprechen könnte. Wenn da nicht die mangelnde Öffentlichkeit, Anerkennung und Bezahlung wäre. Zwar hat das gestrige Spiel des doitschen Team gegen Kolumbien mehr Leute erreicht als abends der “Tatort” (–> ARTIKEL) – aber in “born for this” beschreiben mehrere Spielerinnen die schizophrene Abwechslung zwischen großen, medial sehr präsenten Turnieren wie WM und EM seinerseits und dem öffentlich weitgehend unbeachteten Frauen-Bundesliga-Alltag sehr gut. Der aktuelle Diskurs scheint zu sein: gehts ums den nationalistischen Auftrag sollen fussballspielende Frauen* gut sichtbar sein – sonst im professionaliserten oder amateurorientierten Alltag nicht.

Klar,es ändern sich Sachen, wie dass die Öffentlich-Rechtlichen und der Sender Sport1 in der kommenden Frauen-Bundesliga-Saison 32 Spiele im Free TV zeigen, und damit nicht alle Spiele in der Bezahl-Nische von DAZN laufen wie bisher. Oder dass einige Spielerinnen lukrative Werbeverträge bekommen, so dass es auch eine in Ansätzen vergleichbare materielle Anerkennung der eigenen Leistungsstärke gegenüber männlichen Kickern gibt.

Aber die Wahrheit ist weiterhin auch, dass sich die doitschen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten im Poker um die WM-Senderechte bis 8 Wochen vor der WM geweigert haben, der FIFA mehr für die gesamte (!) Frauen-WM zu bieten, als sie sonst für ein (!) Freundschaftsspiel der Männer-Mannschaft zahlen. Durch diese respektlose Haltung war komplett unklar, ob die WM 2023 überhaupt im Free-TV gezeigt wird, was de-facto eine Infragestellung der Existenzberechtigung des Frauen-Fussballs in Deutschland war.

Noch grösser wird dann der Abgrund, wenn mensch die Spiele anschaut, und dann hört, was sich dort so an Gender-Interpretation durch die Kommentator*innen tummelt. Eine Schiedrichterin habe das Spiel souverän im Griff – was aber “natürlich” sei, schliesslich sei sie schon “dreifache Mutter”. Und auch in Bezug auf die Spielerinnen schwingt oft ein überraschter Unterton mit, “wie gut” denn diese nun seien. Als wäre es in gewisser Form “verrückt”, dass Frauen* – wenn sie ab dem frühen Mädchenalter fußballerisch gefördert werden – im Erwachsenenalter zu hochprofessionellen Sportlerinnen werden, die ihr Spiel und alles damit Verbundene kennen und können.

Ich weiss, gegenüber den Vorurteilen aus den 80ern und 90ern, die schlicht patriarchal behauptet haben, dass “Frauen kein Fussball spielen können”, ist das schonmal ein Fortschritt. Aber der Geist der Unterdrückung und Entwertung schwingt meines Erachtens immer noch mit, und muss weiterhin diskursiv angegriffen und endgültig zerstört werden.

Dazu gehört meines Erachtens auch, den Leistungsgedanken im aktuellen Frauen-Fussball offen in Frage zu stellen. Denn die Strategie, durch Leistung und Leistungssport darauf “aufmerksam” zu machen, dass “Frauen auch Fussball spielen können”, beinhaltet aus meiner Sicht viel zuviel Verständnis für pauschale, patriarchale Abwertung und ist vor allem exklusiv. Weil sie nur für jene Frauen funktioniert, die zeigen, “was sie spielerisch und leistungsmässig können”.

Ein inklusives Verständnis von Fussball müsste eigentlich eher darauf setzen, dass alle das Recht haben, zu spielen, egal wie gut. Und dass geschlechterdiskriminierende Abwertung und vor allem Vergleiche “mit den Männern” immer wieder in die Wüste des Status Quo führen, weíl der Frauenfussball in Deutschland eine eigene Entwicklungsgeschichte hat, die bereits zu genug Benachteiligungen von Frauen geführt haben.

Ein selbstbewusster geschlechtersensibler Ansatz müsste meines Erachtens eher nach jenen politischen Forderungen suchen, die dem professionellen Frauen-Fussball im Hier und Jetzt die Anerkennung gibt, die ihm meines Erachtens zusteht. Gleichzeitig muss die übergreifend dominante Frage “Wie gut (im Vergleich zu Männern) kann diese und jene Frau Fussball spielen” zumindest im Jugend- und Amateurbereich ersetzt werden – durch ein einfaches Mitspielangebot, dass Engagement, sportliche Entwicklung und Krafteinsatz für Jede und Jeden offen lässt.

Vielleicht lautet daher die emanzipatorische Frage zum Komplex Fussball und Gender, warum Männer und an patriarchalen Diskursen orientierte Personen es so schlecht gelernt haben, mit Frauen zusammenzuspielen oder deren Fussball-Spiel einfach mal nicht sofort patriarchal zu normieren und zu kommentieren.

Stellungnahme: “Die Klimakrise ist real und braucht global-solidarische, sozial-ökologische Lösungen. Gegen die bundesweiten staatlichen Repressionen gegen die „Letzte Generation“*”

Angesichts der seit Ende Mai durchgeführten bundesweiten polizeilichen Razzien gegen Mitglieder der klimapolitischen Gruppe „Letzte Generation“ (LG), der darauffolgenden Öffentlichmachung einer staatlichen Überwachung des Pressetelefons der Gruppe und dem Versuch, Mitglieder der LG, die sich an Straßenblockaden beteiligt hatten, in gerichtlichen „Schnellverfahren“ zu verurteilen, muss mit Nachdruck herausgestellt werden, dass die massiven staatlichen Repressionen gegen die LG unverhältnismässig sind und solidarisch abgewendet werden müssen.

Für eine gesellschaftskritische, sozialwissenschaftliche Perspektive stellt der Klimawandel und die daraus resultierende globale Klimakrise einen zentralen Referenzpunkt der eigenen wissenschaftlichen Arbeit dar. Umwelt-, klima- und sozialwissenschaftlich ist unbestreitbar, dass wir uns in einer globalen Entwicklungsdynamik befinden, die menschliche Lebensgrundlagen nachhaltig zerstört. Hiervon zeugen die Klimaerwärmung, die Zunahme von Starkwetterphänomen, das Artensterben, die Abschmelzung der Pole, Dürren, Ernährungskrisen und eine seit Jahren steigende Zahl von Menschen, die auf Grund klimatischer Veränderungen flüchten müssen.

Entsprechend muss die in öffentlichen Debatten immer wieder geäußerte Einschätzung, bei den Aktivistinnen der „Letzten Generation“ handele es sich um „gestörte Klimakleber*innen“ aufs Schärfste zurückgewiesen werden. In den kritischen, sozialwissenschaftlichen Diskursräumen, die sich mit dem Klimawandel beschäftigen, wird nicht mehr ernsthaft diskutiert, ob ein menschheitsbedrohender Klimawandel stattfindet, sondern nur noch, ob und unter welchen Entwicklungsbedingungen dieser bei entsprechenden Gegenmaßnahmen irreversibel ist oder nicht. Diesbezüglich politische Furcht oder Sorge zu entwickeln ist eine angemessene menschliche Reaktion.

Nicht angemessen ist jedoch die politische Entscheidung von Staatsanwaltschaften, Polizeibehörden und konservativen Politiker*innen der Inneren Sicherheit in Deutschland, die politischen Aktionen der „Letzten Generation“ als Tätigkeit einer „kriminellen Vereinigung“ zu werten. Es war und ist immer sichtbar, dass es bei den Aktionen der „Letzten Generation“ darum geht, das alltägliche, in der jetzigen Form hochgradig klimafeindliche, gesellschaftliche Leben in Deutschland zu unterbrechen, um diskursive, politische Freiräume zu öffnen und andere Möglichkeiten und Modelle sozial-ökologischen Handelns zu entwickeln und in der Praxis zu etablieren.

Dieses klimapolitische Ansinnen, auch gegen den im Grundgesetz und einer Reihe internationaler klimapolitischer Abkommen (Pariser Klimaschutzabkommen, Artikel 20a Grundgesetz, Bundes-Klimaschutzgesetz) verankerten politischen Auftrag zum Klimaschutz, zu kriminalisieren, mag in ein konservatives Weltbild passen, das bis zur lebensbedrohenden Selbst- und Fremdgefährdung an „alten Gewohnheiten“ festhalten und deren negative Folgen „totschweigen“ möchte. Es entspricht aber in keiner Weise den wissenschaftlich gesicherten, politischen Aufgabenstellungen, die aus den desaströsen Folgen des gegenwärtigen Klimawandels erwachsen.

Ganz im Gegenteil: mit den gewaltsamen Hausdurchsuchungen, den Angriffen auf Social Media Kanäle und Kommunikationsinfrastruktur sowie der Beschlagnahmung der finanziellen Mittel der LG werden nun auch noch jene sprichwörtlich „in Haft genommen“, die in kritischer Absicht auf die destruktiven Aspekte des Klimawandels hinweisen und diese aufhalten wollen. Aus einer grundrechtlichen Perspektive muss diesbezüglich betont werden, dass die staatlichen Repressionen gegen die LG – ebenso wie vergleichbare staatliche Repressionen gegen klimapolitische Akteure in Staaten wie Frankreich, in denen klimapolitische Gruppen wie “Le Soulèvement de la Terre” massiv drangsaliert und verboten wurden – für die unmittelbar Betroffenen massive anti-demokratische Grundrechtseinschränkungen darstellen.

Klimapolitisch ändern solche „repressiven Schauläufe“ konservativer Politik jedoch kaum etwas an der globalen Gesamtsituation. Denn die politische Aufgabe einer global-solidarischen, sozial-ökologischen Transformation der dominanten, imperialen Lebensweise des globalen Nordens stellt sich weiterhin mit aller politischen Dringlichkeit. Selbiges gilt für den Umstand, dass sich der destruktive Klimawandel unter den Bedingungen einer weiterhin existierenden, ressourcenintensiven und profitorienierten, globalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, die staatlich-autoritär nach Innen und Außen abgesichert wird, menschheitsbedrohend weiterentwickeln wird.

Dass dieses von mündigen Menschen in einer Demokratie kritisch wahrgenommen und problematisiert wird, ist eine politische Selbstverständlichkeit, die wertschätzend gewürdigt muss und nicht kriminalisiert werden darf. Entsprechend müssen die §129 StGB Verfahren gegen die Mitglieder der „Letzten Generation“** sofort eingestellt und darüber hinaus die staatlichen “Ausspäh- und Kriminalisierungsparagraphen” §129, §129a und §129b StGB ersatzlos abgeschafft werden, um den Raum für eine breite gesellschaftspolitische Debatte über global-solidarische Umgangsweisen mit der Klimakrise jenseits plumper konservativer Kriminalisierungsversuche zu öffnen.

Lars Bretthauer, Berlin

*Ich danke jenen Mitgliedern des offenen Verteilers der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung, die den ersten Entwurf dieser Stellungnahme begleitend kommentiert haben, für ihre hilfreichen Anregungen.

** Neue Entwicklungen rund um die LG können auf deren twitter-Profil nachvollzogen werden [–> LINK]

Staatliche Repression und Überwachung #2

Fussballfans gegen Chatkontrolle

Viele staatliche Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen wurden und werden zuerst an Fussballfans ausprobiert, sei es die Erstellung von “Gefährder”-Datenbanken oder das sogenannte “crowd management” im und rund ums Stadion. Erfreulicherweise mischen sich jetzt Fanverbände auch in den aktuellen Konflikt um die Einführung einer Chatkontrolle auf europäischer Ebene ein und haben hierzu einen offenen Brief verfasst, der sich gegen die neuen Kontrollmaßnahmen positioniert. Die Verbände kritisieren zu Recht, dass der vielfach genannte Einführungsgrund der Kontrolle der vermeintliche “Kinder- und Jugendschutz” sei (viele Jugend- und Kinderschutzverbände widersprechen jedoch schon dieser Annahme) – es drohe jedoch zusätzlich eine Ausweitung der Echtzeitkontrolle auf die Fussballfanszenen, die nicht hinzunehmen sei:

“Denn Fußballfans sind schon heute enormen Überwachungsmaßnahmen und Grundrechtseinschränkungen durch die Polizei ausgesetzt. Martialische Polizeieinsätze, Einschränkungen von Bewegungs- und Reisefreiheit sowie Hausdurchsuchungen sind nur einige der Maßnahmen, die gegen Fans eingesetzt werden. Mit der Chatkontrolle könnten die Ermittlungsbehörden noch tiefer als bislang ohnehin schon in das Alltagsleben von Fans eindringen. Einmal eingeführt, befürchten wir einen starken Missbrauch der Chatkontrolle gegen die Sub- und Jugendkultur von Fußballfans, der insbesondere angesichts abnehmender Straftaten in den Stadien einfach nicht vertretbar ist. Die frei und selbstbestimmte Fankultur, wie wir sie bislang kennen, ist dadurch direkt bedroht.” [–> OFFENER BRIEF]

Gesetz gegen digitale Gewalt

Seit April laufen die Beratungen für ein neues Gesetz gegen digitale Gewalt. Im Juni gab es dazu eine Reihe von Stellungnahmen zivilgesellschaftlicher, netzpolitischer und juristischer Organisationen, die zwei Punkte besonders hervorhoben: (1) auch wenn es viele Alltagsbeispiele wie antifeministische Beleidigungen und Bedrohungen im Netz oder Identitätsdiebstahl gibt, gegen die ein solches Gesetz intuitiv Sinn macht, sei der Begriff der “digitalen Gewalt” in den bisherigen Plänen der Bundesregierung völlig unzureichend definiert. Dies habe zur Folge, dass der Begriff strafrechtlich bis weit in die Grauzonen digital vermittelter und tendenziell uneindeutiger digital vermittelter Konflikte erweitert werden könnte, was unbedingt zu verhindern sei. (2) werde zwar öffentlich mit dem Schutz von Persönlichkeitsrechten argumentiert, de-facto lasse der Gesetzesentwurf aber zu, dass der Begriff der digitalen Gewalt auch auf Rechtsgüter wie geistiges Eigentum ausgeweitet werden, und damit eine wirtschaftspolitische Wendung erfahre. Diese lehnen die meisten Verbände ab. Eine sehr gute Zusammenfassung des Gesetzgebungsverfahren gibt der Artikel von Constanze Kurz auf netzpolitik.org. [–> ARTIKEL]

Widerstand gegen die staatliche Überwachung der Letzten Generation

Nachdem im Mai 2023 öffentlich bekannt wurde, dass von staatlicher Seite auf der Grundlage eines $129-Verfahrens zur Gründung einer kriminellen Vereinigung gegen die öko-aktivistische Gruppe der “Letzten Generation” ermittelt wird, wurde kurz danach bekannt, dass das Pressetelefon der Gruppe über Monate abgehört wurde, um an Informationen zu gelangen. Mittels des Pressetelefons kommuniziert die Gruppe mit interessierten Journalist*innen.

Da die monatelange Überwachung der Gespräche zwischen Aktivist*innen und Journalist*innen ein bewusster staatlicher Eingriff in die Pressefreiheit ist, haben nun drei betroffene Journalisten einen Antrag auf Prüfung der von der Münchener Generalstaatsanwalt veranlassten Maßnahme gestellt. Begründung: die Pressefreiheit werde untergraben: “Ronen Steinke, rechtspolitischer Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sagt: „Journalistengespräche abhören, ununterbrochen, monatelang, und die Abgehörten auch hinterher darüber im Dunkeln lassen – ein solcher Übergriff des Staates höhlt die Pressefreiheit aus. Vertrauliche Gespräche sind für unabhängigen Journalismus essenziell.“ [–> ARTIKEL]

Stellungnahme: “Strukturellen Rassismus in den Sicherheitsbehörden ernst nehmen und bekämpfen. Solidarität mit der Lehrbeauftragten Bahar Aslan in NRW*”

Der Fall von Bahar Aslan, einer Lehrbeauftragten für “interkulturelle Kompetenzen” an einer Polizeihochschule in NRW, hat in den letzten Wochen hohe Wellen in der deutschen Öffentlichkeit geschlagen [–> BERICHT]. Aslan hatte Ende Mai auf twitter aus rassifizierter Perspektive ihre Angst und die ihres Freundeskreises vor der deutschen Polizei beschrieben:

„Ich bekomme mittlerweile Herzrasen, wenn ich oder meine Freund*innen in eine Polizeikontrolle geraten, weil der ganze braune Dreck innerhalb der Sicherheitsbehörden uns Angst macht. Das ist nicht nur meine Realität, sondern die von vielen Menschen in diesem Land. Polizeiproblem.”

Darauf erfolgte – maßgeblich ausgelöst durch einen Artikel im Focus [–> NACHBERICHT] – ein rechter Shitstorm gegen Aslan in den sozialen Medien wegen “pauschaler Verunglimpfung der Polizei”, an der sich auch der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei NRW an vorderster Front beteiligte. Daraufhin entschied die Polizeihochschule, Aslans Lehrauftrag nicht zu verlängern.

Aus einer gesellschaftskritischen, sozialwissenschaftlichen Perspektive auf das Feld Innere Sicherheit, die sich in vielfältiger Form mit den Themen Rassismus und Staatsgewalt in Deutschland beschäftigt, ist dieses Vorgehen der Polizeihochschule in mehrfacher Hinsicht nicht nachvollziehbar.

Denn Aslans rassismus- und polizeikritische Äußerungen stellen keine vereinzelte Perspektive dar, sondern gehören zum gängigen Kanon einer polizeikritischen Debatte in Deutschland. Dieser Kanon bezieht eine Betroffenenperspektive genauso ein wie eine sozialwissenschaftlich-analytische Debatte um den sogenannten „strukturellen bzw. institutionellen Rassismus“ in den Sicherheitsbehörden.

Diese Debatte profitiert massiv von den Erfahrungen außeruniversitärer, antirassistischer Bildungs- und Forschungsarbeit – hierzu zählen u.a. das Forschungsprojekt “Death in Custody” [–> LINK] und antirassistische Gruppen und Initiativen wie die “KOP – Kampagne für die Opfer rassistischer Polizeigewalt” [–> LINK] – und hat über socialmedia-Hashtags wie „#polizeiproblem“ [–> TWITTERÜBERSICHT] auch Eingang in die öffentliche Debatte gefunden.

Öffentlichkeitswirksam existiert die Debatte spätestens seit dem von der Oury-Jalloh-Initiative über Jahre angeklagten Mord an Oury Jalloh in einer Polizeistation in Dessau. Sie war aber auch bei der nachträglich festgestellten, über V-Leute bestehenden Verflechtung zwischen den Landesverfassungsschutzämtern und dem rechten Terrornetzwerk des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) ein zentrales Thema, und wurde durch den Abruf von Adressdaten aus Polizei-Computern und dem darauf erfolgenden Verschicken von Morddrohungen durch den NSU 2.0 erneut diskutiert.

Schließlich gelang es der Black-Lives-Matter Bewegung mit ihrer Zurückweisung rassistischer Polizeikontrollen (racial profiling) sowie ihrer scharfen Forderung nach einem sofortigen Ende von Polizeigewalt, die bis zum Mord an rassifizierten Personen reicht, das Thema strukturell-rassistischer Strukturen in den deutschen Sicherheitsbehörden bundesweit auf die politische Agenda zu setzen.

Es ist daher umso beschämender, wenn sich die Leitung der Polizeihochschule nun einem rechten Internet-Mob und konservativen Polizeipolitiker*innen unterwirft, die partout keine Kritik an den deutschen Sicherheitsbehörden dulden wollen – ja, diese antidemokratisch mundtot machen will. Die politisch Verantwortlich reihen sich damit in die Gruppe derjenigen ein, die aus obrigkeitsstaatlicher Haltung oder privilegierter und „weissdeutscher“ Perspektive nicht Willens sind, den vielfältigen Schilderungen von Betroffenen aus ihrem rassistischen Alltag in Deutschland, auch im Umgang mit der Polizei, ernsthaft Gehör und Glauben zu schenken.

Es zeugt von einem antidemokratischen und antipluralistischen Geist, diese marginalisierten und von Diskriminierung betroffenen Stimmen, wie nun passiert, von den Hochschulen zu verdrängen, anstatt sie anzuhören und in selbstkritische Reflexionsprozesse einzutreten. Vor diesem Hintergrund muss der bis heute nicht zurückgenommene Ausschluß von Bahar Aslan von ihren Lehraufgaben dringend zurückgenommen werden und das dieser Entscheidung zu Grunde liegende strukturkonservative Wissenschaftsverständnis grundlegend hinterfragt werden. Solidarität mit Bahar Aslan!**

Lars Bretthauer, Berlin

*Ich danke jenen Mitgliedern des offenen Verteilers der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung, die den ersten Entwurf dieser Stellungnahme begleitend kommentiert haben, für ihre hilfreichen Anregungen.

** Für aktuelle Entwicklungen in diesem Fall bitte Bahar Aslan direkt auf twitter folgen [–> LINK]

Patriarchale, non-konforme Provokationen in der Popkultur: zur anti-sexistischen Debatte um Rammstein

Ich weiss auch nicht genau, warum ich das Bedürfnis habe, etwas zu den Sexismus-Vorwürfen gegen die Band Rammstein und Till Lindemann als ihrem Lead-Sänger zu schreiben. Nachdem ich gestern Ausschnitte des youtube-Videos der Influencerin Kayla Shyx gesehen habe, die auf einer AfterParty von Rammstein zugegen war, kam das Gefühl des sich Äußernwollen jedoch – von daher will ich Euch den Bericht über das patriarchale System Rammstein nicht vorenthalten.

Rammstein: i don’t like the music

Zur Band: ich fand Rammstein vom ersten Tag an wirklich oberscheisse, als sie mit ihrem überartikulierten Hochdeutsch, Lindemanns tiefer Todesstimme und einzelnen Wortfetzen prominent wurde.

Für mich war es eine Zeit, in der bis auf die Hamburger Schule Bands und linkem Rap keine deutschsprachige Band erträglich war, zu sehr war Deutsch die Sprache des hart sozial gestörten MDMA-Schlagers – und zu sehr war unter linken Kulturschaffenden umstritten, ob es nach dem deutschen Nationalsozialismus überhaupt wieder eine öffentliche deutschsprachige Repräsentation in der Musik geben sollte.

Aus dem sozialdemokratischen Spektrum gab es als kulturpolitische Reaktion darauf immer wieder gemässigt deutschnationale Forderungen nach “mehr Radiozeit für deutschsprachige Künstlerinnen”, die jedoch von den linken Kulturschaffenden und Organisatorinnen der Kulturszene direkt und stillschweigend eingestampft wurden.

Non-Konformismus à la Rammstein

Dann kam aber Rammstein, schiss auf alles und machte als Band einfach “ihr Ding” – harte Gitarrenmucke mit deutschsprachigem Befehlston, irgendwie vom Sound her Gothic für Ästhetinnen mit Deutungsanspruch, vom Inhalt her aber leider nix zu holen, sondern dünner als die Inhaltsangaben auf einer Leberwurstverpackung im Supermarkt. Rammstein halt.

Dann war da die Sache mit dem Musikvideo in Leni-Riefenstahl Optik Ende der 2000er Jahre [–> LINK ZUM VIDEO]. Ich war wirklich fassungslos angesichts der offenen Anlehnung an die nationalsozialistische Ästhetik der Olympiade 1936. Dass es Rammstein damals gestattet wurde, zu behaupten, es sei nur eine “Anlehnung” als Riefenstahls arische Sportoptik und unterliege der Kunstfreiheit, ist aus meiner Sicht einer der grossen Kunst- und Kulturskandale in Deutschland nach 1990. Rammstein hätte einfach für eine längere Zeit geächtet werden müssen – statt dessen internationalisierte sich die Band und wurde zum deutschen Metallica-Äquivalent.

Gesellschaftlicher Umgang mit non-konformen Kunst-Persönlichkeiten

Ehrlich gesagt ist mir die Band egal, von mir aus kann sie sich auflösen, und hätte dieses auch schon vor 15 Jahren machen können. Was mich aber umtreibt ist der gesellschaftliche Umgang mit Künstlerinnen und ihrem nonkonformen Verhalten, der jetzt wieder hochploppt. Ich hab in den letzten Jahren immer wieder Momente, an denen ich fassungslos davor stehe, wie in der deutschen Öffentlichkeit mit “nonkonformen Kunst-Persönlichkeiten” umgegangen wird.

Beispiel: ein Mann spielt in Filmen auf Grund seiner aufgedunsenen Haut immer wieder Alkoholiker-Charaktere und nach 20 Jahren kommt dann raus: er ist nicht nur im Film Alkoholiker, sondern auch im Alltag und “alle sind schockiert”. Da schnall ich irgendwie ab, wenn ich das Gefühl habe, Leute blenden so etwas wie äußere Gesundheitsschäden aus und verlagern Leute nur noch in ihre Fantasiewelt.

Nächstes Beispiel: Leute, gerade Männer, werden in Hollywood in krasse Machtpositionen versetzt und zu Götzen des Boulevard erklärt – und irgendwann kommt raus: sie haben das Ticket immer wieder eingelöst und sich wie die letzten Wichser verhalten. Leute genötigt, belästigt, geschlagen, gedemütigt. Auch hier: der Schock, dass die “nette Spielfilmfigur” sich nicht in den Alltag übersetzen lässt.

Und dann: der Sänger einer Band, nennen wir sie spaßeshalber “Rammstein”, der in seiner bisherigen Karriere auf alles geschissen hat, und zwar literally vom ersten Tag an, hat ein patriarchales System sexueller Gefügigkeit, Abhängigkeit und Dominanz um sich herum etabliert. No way – er war doch nur so dominant und kacke in seiner Kunst, sein “wirkliches Ich” muss doch “Normalitätsstandards” einhalten. No fucking way Leute, wer mit gesellschaftlicher Anerkennung für eine wüste Persönlichkeit und Geld für ehrlich gesagt, behämmerte und peinliche Mucke ausgestattet wird, der geht dann auch steil und hält sich für Gott.

Die “Autonomie der Kunst” und ihr Alltagsbezug

Für die von Lindemann belästigten, genötigten, verprügelten und vergewaltigten Mädchen und Frauen* tut es mir natürlich schlicht und wirklich leid, was ihnen passiert ist. Aber ich finde, eine basisdemokratische Gesellschaft darf nicht so tun, als wäre sie mit ihrer Popkultur, dem hierarchischen Ikonenkult und abgespalteten Kunstwelten nicht zentral dafür verantwortlich, dass solche Sachen passieren.

Ich weiß, dass alle Diskussionen dieser Art eine riesige Grauzone sind. Darf jetzt niemandem mehr getraut werden, die*der aggressiv auftritt, z.B. gegen soziale Ungerechtigkeit? Nein, aber ich finde, der Star-Kult birgt einfach die riesige Gefahr, dass sich ein bestimmter öffentlicher non-konformer Habitus in egozentrische Anspruchshaltungen im Alltag übersetzt, die dann mit Geld blendend untermauert werden können. Und der von Kunstszenen und dem Kulturbetrieb stillschweigend über Jahre totgeschwiegen und mitgetragen wird.

Hier ist social media wirklich eine riesige Errungenschaft, weil die früher abgespulten, bigotten “Bestürzungsdiskurse” von Managements, Künstler*innen-Kolleg*innen und Presse über etwaige “aus dem Ruder laufende” Künstler*innen sofort von szeneinternen (Film, Musik, Bildende Künste usw) Diskursen unterlaufen werden, die klar machen, dass eben alle, die was zu sagen hatten, Bescheid wussten. Und einfach die Fresse gehalten und in aller Ruhe abkassiert haben.

Aus meiner Sicht ist es die politische Aufgabe von persönlichen und professionellen Umfeldern, Leute wie Lindemann frühzeitig in die Schranken zu weisen, wenn der Übersprung vom Star-tum in den Alltag stattfinden. Ob mit privat gesprochenen Worten, öffentlichen Distanzierungen ohne direkten öffentlich einsehbaren Anlass oder roher “freundschaftlicher” Gewalt müssen Leute in ihren jeweiligen Beziehungskonstellationen entscheiden.

Für Kunst als emanzipatorisches Bildungsangebot

Was jedoch inakzeptabel ist, und das ist der Punkt, an dem die deutsche Kulturlandschaft meines Erachtens heute steht, ist das Desinteresse an Popkultur-Persönlichkeiten und ihrem Verhältnis zum Alltag. Letzterer muss jedoch die Maßgabe für die Entwicklung von Kunst und Kultur sein – will diese nicht zum gesellschaftlich gepamperten Arschloch-tum verkommen. Denn wer es nicht schafft, zu schreiben, zu singen oder zu filmen, ohne andere parallel oder zum Ausgleich gegen ihren Willen zu demütigen, hat aus meiner Sicht in solchen Jobs nichts verloren. Sondern sollte sowas wie Gärtnern machen, wo keine menschlichen Existenzen gebrochen werden.

Und wer wie Lindemann in der Auseinandersetzung um das Riefenstahl-Video keinerlei Rücksicht auf den Erinnerungsdiskurs an den deutschen Nationalsozialismus und den Holocaust zeigt, sondern “einfach sein Ding durchzieht” – dem ist aus meiner Sicht mit Skepsis zu begegnen, was seine Fähigkeit zu Empathie angeht. Danger Dan würde sagen, “Mensch das ist doch alles von der Kunstfreiheit gedeckt”, was stimmt. Aber es zeigt eine harte egozentrische Egal-Haltung, die schon an sich und kunstimmanent rücksichtslos z.B. gegenüber Holocaust-Überlebenden ist.

Und die eben Gefahr läuft, sich als narzistische Persönlichkeiten auch soweit im Alltag zu verstetigen, dass “Künstler*innen” anfangen, sich zerstörerisch gegenüber anderen Leuten in ihren näheren privaten und beruflichen Umfeldern zu verhalten.

Dies ist dann zwar von keinem Kunstfreiheitsbegriff mehr gedeckt, denn es gibt zurecht keine offizielle Kunstfreiheit, andere Leute zu Gesellen des eigenen Egos zu erklären und diese rücksichtlos abzurichten und zu benutzen. Ein solches Verhalten bezieht aber seine Legitimation – neben massiven wirtschaftlichen Einnahmequellen für die direkten beruflichen Umfelder – aus den öffentlich betonten, “künstlerischen Fähigkeiten” der jeweiligen Kunst-Person, ihren “kreativen Potentialen” und “genialen Einsichten”, die zerstörerisches Verhalten im Alltag angeblich “akzeptabel” und “hinnehmbar” machen sollen.

Im Kern handelt es sich hier jedoch um das Abfeiern eines aggressiven, egozentrischen Non-Konformismus, oder anders: um schlichtes, gesellschaftlich gefördertes Arschlochverhalten. Wer es ernst meint mit linker Subkultur und Kunst als non-konformem, kollektiv organisiertem und emanzipatorischem Kommunikations- und Bildungsangebot muss ein solch professionaliertes Ego-Shooter-Tum, meist von Männern*, und damit das Bild “non-konformer Künstlerpersönlichkeiten” mit egozentrischem und patriarchalem Gestus, grundlegend attackieren, um andere Verhältnisse ermöglichen. Geschieht dieses nicht, sind “Skandale” wie der jetzige um Rammstein und Till Lindemann eben keine Skandale, sondern absehbare, sich wiederholende Folgen einer Popkultur, der es primär um Geld, markante Images und rücksichtlose Gewinne in der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie geht.